Berlin/Bad Dürrenberg. Nazis galt sie als Urarier, heute weiß man es besser: In Sachsen-Anhalt war die vielleicht bedeutendste Frau der Steinzeit begraben.

Vor gut 9000 Jahren lebte im heutigen Sachsen-Anhalt eine Frau, deren Wirken die Menschen noch immer fasziniert: die „Schamanin“ von Bad Dürrenberg. 1934 entdeckten Arbeiter ihr Grab. Darin fanden sich die Überreste einer Frau um die 30 sowie die eines Kleinkindes – und jede Menge Grabbeigaben, die auf eine bedeutende Stellung der Frau in ihrer Gemeinschaft hindeuten.

Die in den 30er-Jahren herrschenden Nazis erklärten kurzerhand, dass es sich um einen einflussreichen weißen Mann handle und fantasierten mit dem Fund einen Beweis für ihre menschenfeindlichen Rassentheorien herbei. Der Urarier, Kanalarbeiter sollen ihn in der Sachen-anhaltinischen Provinz ausgebuddelt haben.

Vermeintlicher „Urarier“ war eine Frau – und nicht weiß

2006 stellte sich dann heraus, was viele längst ahnten: alles Unfug. Kein Mann, nicht weiß, so „arisch“ wie die Führungsriege der Nationalsozialisten. Untersuchungen hatten ergeben: Es ist eine Frau, zusammen mit einem Kind, das zwar nicht ihres war, aber doch immerhin mit ihr verwandt. Weiß war sie auch nicht, wie die meisten Menschen in der Steinzeit.

Bedeutend aber, das war die Frau wohl. Nicht nur für ihr unmittelbares Umfeld. Ihre Zeitgenossen dürften ihr besondere Fähigkeiten zugesprochen haben, ein im Grab gefundener möglicher Kopfschmuck deutet auf eine spirituelle Führungsposition in ihrer Gemeinschaft hin. Vielleicht glaubten sie, die Frau stünde mit der Geisterwelt in Verbindung, könne als Medium mit dem Totenreich kommunizieren oder die Götter um Vorsehung bitten.

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Die "Schamanin" in vollem Ornat, wie sie sich ein Künstler vorstellt. Mit Methoden der Paläogenetik konnte ihr Antliz rekonsturiert werden.  © „© Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/Karol Schauer | Karol Schauer

„Schamanin“ mit Geburtsfehler

Für diese Fähigkeiten gibt es eine recht weltliche, nicht minder spannende, Erklärung. Untersuchungen ihres Skeletts hatten ergeben: Die beiden oberen Halswirbel der „Schamanin“ waren fehlgebildet, wodurch die Blutgefäße im unteren Schädelbereich vermutlich weniger Platz hatten.

Im Ergebnis, davon gehen Anthropologen heute aus, wird die Frau durch eine bestimmte Haltung ihres Kopfes die Blutgefäße abgeklemmt haben können – was zu unkontrolliertem zucken und flackern ihrer Augäpfel führte. Dieser Nystagmus könnte von den Menschen der Steinzeit als Zeichen betrachtet worden sein, die Frau stehe mit der Anderswelt in Verbindung.

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So erklärt sich ihre Bedeutung, die sich sogar über ihren Tod erhalten haben dürfte. Das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt hat zudem in Nachgrabungen am Fundort der Frau eine weitere Grube entdeckt, die nur einen Meter entfernt vom Grab der „Schamanin“ liegt. Darin fanden die Archäologen unter anderem Werkzeuge aus Quarz und Feuerstein, Überreste von Schildkröten sowie zwei Rothirschgeweihe, noch mit dem Schädel verbunden und vermutlich als Masken getragen.

Sie stammen allesamt aus späteren Jahrhunderten – was nur den Schluss zulässt, dass Menschen das Grab der Frau auch nach ihrem Ableben aufsuchten. Beten sie für den Beistand der Verstorbenen? Mag sie als eine Art Heilige gegolten haben, ein Bindeglied zwischen dem Jetzt und dem Danach? Manches spricht dafür.

Steinzeitliche Klimakrise führte Menschen zum Grab der „Schamanin“

Die Darbietung der Gaben in der Grube fällt in den Bereich der Misox-Schwankung, einem starken Temperaturabfall um durchschnittlich 2 Grad Celsius vor rund 8200 Jahren. Der Nordatlantikstrom war kurzzeitig unterbrochen, mit teils katastrophalen Auswirkungen auf das Klima in Europa und im Vorderen Orient. Hatte diese vorübergehende Klimakrise die Menschen zum Grab der „Schamanin“ geführt?

Grabbeigaben zeigen den hohen Status der
Grabbeigaben zeigen den hohen Status der "Schamanin" von Bad Dürrenberg.  © „© Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/Foto Juraj Lipták | Juraj Lipták

Auch wenn die These mit letzter Sicherheit wohl nicht zu belegen ist, darf man davon ausgehen, dass die Macht und die Position der Frau nicht nur Zeitgenossen bekannt war, sondern sich als eine Art Proto-Religion über die Jahrhunderte überliefert hat – ohne organisierten Kult oder Schrift. Und das vielleicht weit über die Region hinaus. Bei den Nachgrabungen fanden sich durchbohrte Schneckenhäuser, die vielleicht als eine Kette und Haarschmuck getragen wurden – und aus dem Steinheimer Becken in Baden-Württemberg stammten, berichtet das Fachblatt „Archäologie-Online.de“.

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Wer nur das dringende Bedürfnis verspürt, dieser vielleicht bedeutendsten Frau des mittelsteinzeitlichen „Deutschlands“ nahe zu sein, hat dazu in Halle (Saale) Gelegenheit. Das Landesmuseum für Vorgeschichte hat die Erkenntnisse rund um die „Schamanin“ in einem neugestalteten Ausstellungsraum zugänglich gemacht. Im Rahmen einer Partnerschaft der Landesgartenschau Sachsen-Anhalt in Bad Dürrenberg (19. April bis 13. Oktober) sollen die Fundstelle und neue Erkenntnisse „eine besondere Rolle spielen“, heißt es vom Museum. Rabatte auf die Eintrittspreise inklusive.