Stuttgart. Vier Jahre ist der Gewaltexzess in Stuttgart her. Um Ereignisse aufzuarbeiten, geht die Stadt neue Wege – erntet Lob und auch Skepsis.

Am Anfang dieser Nacht sei da nur ein Staunen gewesen, sagt Michael, und ein Schreck. Junge Menschen rennen durcheinander, Polizisten schützen sich mit Helmen und Schildern, Steine fliegen, dann auch Stangen und Flaschen. Rufe, Sirenen. Michael habe in dem Moment vom Stuttgarter Schlossplatz verschwinden wollen, erzählt er, doch an der Polizeikette sei Schluss gewesen.

Michael blieb, ließ sich anstecken von der Wut auf der Straße, befeuert auch durch den Alkohol in seinem Blut. „Ich war nicht in Kontrolle meiner Emotionen“, sagt er. „Was soll ich sagen? Alle haben Sachen gemacht, also habe ich gesagt, mache ich jetzt mit.“ Michael schnappt sich einen der Stühle, die eigentlich zu den Restaurants am Schlossplatz gehören und wirft. Er habe ein Polizeiauto getroffen, sagt er, keinen Menschen.

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Jetzt, mehr als drei Jahre später, sitzt Michael, 20 Jahre alt, im Bistro des Jugendamts. Draußen legt sich der Abend langsam über Stuttgart, es ist ein nasser Frühlingstag. Die Nacht, von der Michael erzählt, liegt einige Jahre zuürck. Und der Wut von damals, an einem Tag im Sommer 2020, ist heute Scham gewichen. „Mir tut es extrem leid, was damals passiert ist.“ Michael hat das schon einmal gesagt, im schmucken Saal des Stuttgarter Rathauses. Er saß dort, mit seiner Mutter, die ihn an diesem Tag begleitete.

Jugendamt: „Wir haben Momente erlebt, in denen Tränen flossen“

Täter und Betroffene, aber auch Angehörige und Mediatoren trafen sich zu einer „Wiedergutmachungskonferenz“, alle sprachen mehrere Stunden über die Nacht, ihre Erinnerungen, die Wut, die Ängste. Dabei waren auch andere Jugendliche, die damals randaliert haben, Polizisten – und Thomas Müller und Jasmina Wiehe vom Jugendamt der Stadt. 24 junge Menschen machten mit, 17 von der Polizei, in insgesamt sieben Konferenzen, auch ein Ladenbesitzer kam, dessen Geschäft Jugendliche geplündert hatten.

Sommer 2020: Menschen stehen vor einem geplünderten Geschäft in der Suttgarter Innenstadt.
Sommer 2020: Menschen stehen vor einem geplünderten Geschäft in der Suttgarter Innenstadt. © picture alliance/dpa/Julian Rettig | Julian Rettig

Das Konzept arbeitete das Jugendamt aus: Alle Teilnehmenden beantworteten fünf Fragen – etwa wie sie persönlich die Nacht erlebt haben, aber auch, welche Folgen die Ereignisse von damals für sie hatten und was das Schlimmste war. Manche redeten nur kurz, andere schütteten ihr Herz aus. „Wir haben in einigen Konferenzen sehr lebhafte Debatten gesehen, auch emotionale Momente, Augenblicke, in denen Tränen flossen“, erzählt Jasmina Wiehe vom Jugendamt.

Ein Polizist habe berichtet, dass seine Frau seit der Nacht immer wieder ängstlich ist, wenn er auf Streife geht, berichtet Wiehes Kollege Thomas Müller. Ein Jugendlicher erzählte, wie er im Rausch der Gewalt aus einem Schuhgeschäft Sneakers mitgehen ließ – und zwei linke Schuhe griff. Der junge Mann sagte, wie peinlich ihm das alles sei. Immer wieder geht es bei den Konferenzen um dieses Gefühl: Scham. Aber auch um Demut und Empathie für die andere Seite.

In den Konferenzen geht es darum, den Schaden der Nacht zu heilen

Mehmet war damals dabei, heute ist er 21 Jahre alt. Er spricht ruhig, und trotzdem merkt man, wie die Gewalt der Nacht ihn noch immer bewegt. „Eigentlich war ich Fan von der Polizei, ich habe bei der berufsorientierten Woche in der Schule sogar ein Praktikum bei der Polizei gemacht“, sagt Mehmet. „Ich bin kein Polizeifeind, kein Krimineller.“ In den Konferenzen ging es auch darum, was den Schaden dieser Nacht heilen könnte. Am Ende eines Tags im Stuttgarter Rathaus überlegten alle gemeinsam, was zu tun ist. Wie aus Wut Verständnis werden kann. Wie ein Stück Frieden in der Stadt wieder erreicht werden kann.

Manche der Jugendlichen organisierten eine „Aufräumaktion“ in der Stadt, andere sammelten Spenden für einen guten Zweck oder drehten einen Videoclip, mit einem Appell an andere junge Menschen: „Tu das nicht! Lass es lieber sein!“ Das, was sich in der Pandemie an Wut aufgestaut hat zwischen Staat und Bürgern, hält sich bis jetzt. Übergriffe gegen Polizistinnen und Polizisten hätten zugenommen, zumindest nimmt es die Polizei so wahr. Die Spannungen auf deutschen Straßen wachsen. Kann ein alternativer Weg den Kitt der Gesellschaft wieder stärken?

Sie nahmen an den Wiedergutmachungskonferenzen teil: Die Polizisten Kai Conzelmann (v.l.n.r.), Beate Holz und Gunter Schmidt, sowie die Organisatoren Thomas Müller und Jasmina Wiehe vom Jugendamt Stuttgart.
Sie nahmen an den Wiedergutmachungskonferenzen teil: Die Polizisten Kai Conzelmann (v.l.n.r.), Beate Holz und Gunter Schmidt, sowie die Organisatoren Thomas Müller und Jasmina Wiehe vom Jugendamt Stuttgart. © Alex Kraus | Alex Kraus

Ja, sagen Wiehe und Müller vom Jugendamt, jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen. „Wenn die Beteiligten ernsthaft daran teilnehmen, sind sie auch gewinnbringend“, erklärt Müller. „In vielen von uns bearbeiteten Fällen sorgt eine Begegnung, ein Austausch und ein damit einhergehender Perspektivwechsel für eine nachhaltige Lösung.“ Wiedergutmachungskonferenzen könnten „das Verständnis für die jeweils andere Seite befördern, sie können deutlich machen, dass hinter der Uniform auch ein Mensch steckt“, sagt der Erste Polizeihauptkommissar Gunter Schmidt. Er war einer der Polizisten, die die Konferenzen besuchten.

Beamter: „Da haben sich Fronten aufgebaut, auch gegen die Polizei“

Zerbrochen waren in Stuttgart nicht nur Schaufensterschreiben. Die Nacht hat Narben im Gedächtnis der Stadt hinterlassen, Beamte seien traumatisiert gewesen, berichten Polizisten. Bundesweit geriet Stuttgart in die Schlagzeilen, in der Geschichte der Stadt ist nur noch von der „Krawallnacht“ die Rede. Nach dem ersten Corona-Lockdown war Mitte Juni 2020 wieder mehr Freiheit möglich – die Clubs dicht, aber die Straßen wurden zur Partyzone für Jugendliche. Nach einer Drogenkontrolle eskalierte die Lage. Am Ende waren mehr als 30 Polizisten verletzt, erst in den Morgenstunden gewann die Polizei die Kontrolle zurück.

Fast vier Jahre nach den Ausschreitungen sitzen Polizistinnen und Polizisten mit den jungen Menschen und den Mitarbeitenden vom Jugendamt zusammen zum Interview mit unserem Reporter.
Fast vier Jahre nach den Ausschreitungen sitzen Polizistinnen und Polizisten mit den jungen Menschen und den Mitarbeitenden vom Jugendamt zusammen zum Interview mit unserem Reporter. © Alex Kraus | Alex Kraus

In der Pandemie habe es ein „kulturelles Vakuum“ gegeben, sagt Polizeihauptkommissar Kai Conzelmann. Auch er war in der Krawallnacht im Einsatz, auch er nahm an den Wiedergutmachungskonferenzen teil. Nun sitzt er Michael und Mehmet im Bistro des Jugendamts gegenüber – und erzählt von der Nacht. In der Pandemie sei der Polizei die Rolle des Spielverderbers zugekommen, sagt er. „Da haben sich Fronten aufgebaut, auch gegen die Polizei.“ Gerade für jüngere Kolleginnen und Kollegen war die Nacht eine schlimme Erfahrung.

Studien etwa der britischen Forscherin Heather Strang legen nahe, dass sich Opfer von Kriminalität weniger ängstlich fühlen, wenn sie eine Gemeinschaftskonferenz besuchen – statt nur den Gerichtsprozess. Im australischen Canberra wurden Straftäter unter 30 Jahren weniger oft rückfällig, wenn sie an diesen alternativen Projekten teilnahmen. Nicht immer sind die Forschungsergebnisse eindeutig, und doch sind sie ein Hinweis darauf, dass Treffen und Dialoge wirken können.

Opfer von Gewalt und deren Angehörige werden kaum gehört

Die Forschung zeigt zugleich, dass der gewöhnliche Rechtsweg in Deutschland oftmals Betroffene und Täter gleichermaßen frustriert zurücklässt: Straftat, Ermittlungen, Prozess, Urteil. Im Gerichtsverfahren geht es vor allem um die individuelle Schuld der Täter. Wer eine Tat begeht, darf im Verfahren sogar lügen, um sich aus der Affäre zu ziehen – statt Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Und die Opfer von Gewalt spielen erst gar keine bedeutende Rolle, kommen nur als Zeugen zu Wort, wenn überhaupt. Wie es Angehörigen von Betroffenen und Tätern geht – auch das ist für die Strafe nicht wichtig.

Sommer 2020: Einheiten der Polizei stehen in der Innenstadt.
Sommer 2020: Einheiten der Polizei stehen in der Innenstadt. © picture alliance/dpa | Christoph Schmidt

Deshalb hat sich eine Schule gebildet, sie nennt sich „Restorative Justice“ – also wiederherstellende Gerechtigkeit. Statt um den Rechtsfrieden geht es um den sozialen Frieden. Statt Schuld und Strafe soll der Täter zur Verantwortung gezogen werden, einen Schaden wiedergutmachen. Der Gedanke geht zurück auf Friedenszirkel indigener Völker. Mit Friedenspfeife rauchen hat das aber wenig zu tun – dahinter stecken heute sozialpsychologische, therapeutische und kriminologische Konzepte.

Erste Gemeinschaftskonferenzen mit jugendlichen Tätern gab es schon in den 1990er-Jahren etwa in Neuseeland oder den USA. In Deutschland hat sich diese Praxis nie etabliert, einzelne Projekte wie etwa in Elmshorn bei Hamburg vor mehr als 20 Jahren blieben Ausnahmen. Vielleicht auch deshalb, weil Konferenzen aufwendig zu organisieren sind, Zeit brauchen und wenig bekannt sind – und der Staat per Gesetz verantwortlich ist, Strafen abzuurteilen.

Stuttgart: Viele Jugendliche wurden verurteilt, auch zu Haftstrafen

So war es auch nach der Gewalt in Stuttgart. Die Justiz reagierte mit Härte, führte monatelang etliche Ermittlungen, ein 18-Jähriger wurde zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt, weil er bei einem Polizeiauto die Scheibe eingeschmissen hatte. Später wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Polizisten nahmen auch Mehmet und Michael fest, sie wurden morgens von einer Streife zuhause abgeholt, kamen zum Verhör auf die Wache, gestanden die Tat. Viele Jugendliche wurden verurteilt, auch zu Haftstrafen.

November 2020: Der Angeklagte im ersten öffentlichen Prozess um die Stuttgarter Krawallnacht sitzt in einem Saal des Amtsgerichts.
November 2020: Der Angeklagte im ersten öffentlichen Prozess um die Stuttgarter Krawallnacht sitzt in einem Saal des Amtsgerichts. © picture alliance/dpa | Marijan Murat

Studien zeigen, dass es nicht unbedingt hohe Strafen sind, die Täter abschrecken vor kriminellem Handeln. Es ist eher das schnelle Urteil – und das Risiko, entdeckt zu werden. Michael sagt über seinen Prozess: „Da hatte man Angst, dass man eine große Strafe bekommt.“ Und Mehmet ergänzt: „Im Gericht habe ich eine Stunde lang nur an mich gedacht, was passiert jetzt, was bekomme ich jetzt für eine Strafe.“ An die verletzten Polizisten dachte Michael in dem Moment nicht.

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Haft hat einen Vorteil: Gesetzesbrecher sind weggesperrt, sie können keinen Schaden anrichten. Zugleich macht Knast aus Tätern keine besseren Menschen. Wiedergutmachungskonferenzen wollen Täter zurückholen in die Gemeinschaft, in der sie ihre Straftat begangen haben. In der Theorie klingt das gut, in der Praxis ist das kein leichtes Unterfangen.

Ermittlerin: „Bei vielen Kollegen wurde aus der Skepsis dann Neugier“

Beate Holz arbeitet als Ermittlungsassistentin bei der Stuttgarter Polizei. Ihr Job war es, die Idee der Konferenzen in der Polizei bekannt zu machen. „Bei vielen war Skepsis da“, sagt sie. Die Beamtinnen und Beamten hätten mit Wiedergutmachungskonferenz nichts anfangen können. Andere hätten sich die Frage gestellt, wie denn die Gewalt aus der Nacht jemals wieder gut gemacht werden könne. Holz ist durch die Dienststellen getourt, hielt Vorträge, erklärte das Projekt. „Bei vielen Kollegen wurde aus der Skepsis dann Neugier.“

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    Eine Befragung des Jugendamts nach den Konferenzen ergab, dass sowohl die jungen Menschen als auch die Polizisten überwiegend zufrieden waren mit den Gesprächen. Alle wünschten sich mehr Austausch, mehr Raum zum Reden. Zugleich gab es auf Seiten der Polizei Zweifel, wie ernst die Reue bei manchen der verurteilten Jugendlichen wirklich ist. Und Polizist Schmidt sagt: „Für viele in der Polizei ist wichtig, dass diese Konferenzen das Strafrecht niemals ersetzen können. Es geht am Ende auch darum, dass jeder Täter für die Taten eine gerechte Strafe bekommt.“

    Michael macht jetzt sein Abitur, Mehmet studiert Wirtschaftspsychologie. Ein Gericht verurteilte sie wegen Landfriedensbruchs zu Bewährungsstrafen. Als ihre Konferenz im Rathaus zu Ende ging, hatten sie und die Polizisten eine Idee zur Wiedergutmachung: Sie organisierten ein Fußballturnier, Polizisten und Jugendliche sollten gemeinsam auf dem Platz stehen. Am Ende spielten nur die Jugendlichen, die Polizeiführung, heißt es, hatte Bedenken, wegen des „Wettkampfcharakters“ mit den verurteilten Tätern.

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