Berlin. Ob für Russland oder China: Immer mehr mutmaßliche Spione werden derzeit enttarnt. Doch der spektakulärste Fall liegt länger zurück.

Die Festnahme möglicher chinesischer Spione in Deutschland und auch zweier Männer in Bayern, die für Russland spioniert und womöglich sogar Anschläge geplant haben sollen, lässt schnell bestimmte Bilder im Kopf entstehen: Figuren und Szenen aus James-Bond-Filmen oder den Romanen von John le Carré. Ferngläser, Funkgeräte, schnelle . Spionage regt die Fantasie an, weil man nicht so genau weiß, was sich da wirklich abspielt im Dunkel des Machtkampfes verschiedener Kräfte. Wie oft im Leben ist die Realität wohl banaler – auch in der Welt der Geheimagenten.

Und doch können sie in manchen Fällen größte Unruhe und Verunsicherung auslösen. So war es vor genau 50 Jahren, als die Enttarnung und Verhaftung der DDR-Spions Günter Guillaume und seiner Frau Christel die Bundesrepublik erschütterte und zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt führte. Der Verfassungsschutz hatte herausgefunden, dass der als Referent im Büro Brandts beschäftigte Guillaume den Ost-Berliner Staatssicherheitsdienst mit geheimen Informationen und Unterlagen aus dem engsten Umfeld des sozialdemokratischen Kanzlers belieferte.

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So spektakulär diese Spionageaffäre endete, so unspektakulär hatte sie begonnen, wobei sie klassischen Mustern der Geheimdienstarbeit folgte. Die Guillaumes waren 1956 als vermeintliche Flüchtlinge aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Sie waren sogenannte Schläfer, die sich im Dienste Ost-Berlins ein unauffälliges Alltagsleben im Westen aufbauen sollten – mit dem langfristigen Auftrag „Integration und Aufklärung der SPD“.

DDR-Spion: Guillaumes steile Karriere ins Kanzleramt

Solche „Schläfer“ verfolgen über Jahre ihren Weg nach oben in einer bestimmten Institution, bis sie eine Position erreichen, die ihnen genug Einblick gewährt. Dann „wachen sie auf“ und beginnen, auf verborgenem Wege Berichte an ihre Zentrale zu schicken. Die DDR sandte über die Jahrzehnte zahlreiche solcher Schläfer-Agenten in den Westen oder warb dort entsprechende Mitarbeiter an (und der Bundesnachrichtendienst tat es ihr im Osten gleich), doch Guillaume war der bei weitem erfolgreichste von ihnen.

Günter Guillaume und dessen Ehefrau Christel vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf beim Spionageprozess am 24. Juni 1975. Das Ehepaar wurde zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und konnte 1981 im Zuge eines Agentenaustauschs in die DDR zurückkehren.
Günter Guillaume und dessen Ehefrau Christel vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf beim Spionageprozess am 24. Juni 1975. Das Ehepaar wurde zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und konnte 1981 im Zuge eines Agentenaustauschs in die DDR zurückkehren. © picture-alliance/ dpa | Roland Scheidemann

Er trat 1957 in Frankfurt am Main in die SPD ein und machte eine kleine, aber stetige Parteikarriere. 1968 wurde er Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Frankfurter Stadtrat und dann selbst Stadtverordneter. 1969 organisierte er den Wahlkampf des hessischen SPD-Politikers Georg Leber und erwarb sich den Ruf als zuverlässiger, effizienter, stramm-rechter Sozialdemokrat. Als Leber Minister in Brandts erster Regierung wurde, empfahl er Guillaume dem Leiter der Wirtschaftsabteilung im Kanzleramt, als Referenten. Der fleißige Mitarbeiter stieg weiter auf und wurde Referent im Persönlichen Büro des Kanzlers.

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Kollegen beschrieben ihn später als clever, fix und findig, als guten Organisator und umgänglichen Kollegen, der keine Arbeit scheute. Im Wahlkampf 1972 begleitete er Brandt auf dessen Reisen und im Jahr darauf sogar im Urlaub nach Norwegen, wo er direkten Zugriff auf den verschlüsselten Nachrichtenverkehr des Kanzlers hatte und einen vertraulichen Originalbrief des US-Präsidenten Richard Nixon an den Kanzler in die Hände bekam. Obwohl er da schon im Visier des Verfassungsschutzes war, verzichtete der Dienst auf die Beobachtung des mutmaßlichen Agenten ausgerechnet in dieser heiklen Ferien-Situation.

Absurd: Brandt als Lockvogel für einen feindlichen Agenten

Die Sicherheitsbehörden hatten bereits im Mai 1973 den Verdacht, Guillaume könnte ein Spion sein. Doch der damalige Verfassungsschutzpräsident empfahl, ihn auf seinem Posten in der Nähe des Kanzlers zu belassen und ihn genauer zu beobachten. Brandt wurde darüber informiert, nahm den Hinweis aber offenbar nicht besonders ernst. So entstand die eigentlich unglaubliche Situation, dass der Kanzler als eine Art Lockvogel für einen feindlichen Agenten dienen sollte. In einem Spionagefilm wäre das als nicht besonders glaubwürdig erschienen.

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In den folgenden Monaten entwickelte die Affäre eine Eigendynamik innerhalb des Verfassungsschutzes, der sich mit der Zeit weniger mit dem Verräter Guillaume befasste als mit angeblichen Affären des Kanzlers und darüber ein Dossier verfasste. Der offizielle Grund war, dass man hier ein mögliches Erpressungspotenzial gegen Brandt vermutete. Am 24. April 1974 wurden Guillaume und seine Frau, die ihm zugearbeitet hatte, verhaftet.

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    In den folgenden Tagen kursierten diverse Gerüchte über das angeblich freizügige Privatleben Brandts und bereicherten die Bonner Spionageaffäre um ein wichtiges Element aus der Welt der Agentenfilme, den Sex. Sie entsprachen zwar bei Weitem nicht der Wahrheit, doch dem gesundheitlich und politisch in einer Schwächephase steckenden Brandt reichte es. Er erklärte am 6. Mai seinen Rücktritt.

    So hatte der größte Spionageerfolg der DDR einen durchaus unerwünschten Effekt: Die SED-Führung hatte eigentlich kein Interesse daran, ausgerechnet jenen Kanzler zu stürzen, der die innerdeutschen Beziehungen entspannt und der internationalen Anerkennung der DDR den Weg bereitet hatte. SED-Chef Erich Honecker ließ Brandt später wissen, er habe von diesem Agenten gar nichts gewusst und hätte ihn sonst aus dessen Umgebung abziehen lassen. Die Guillaumes wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und konnten 1981 im Zuge eines Agentenaustauschs in die DDR zurückkehren, wo sie entgegen den Bekundungen Honeckers gefeiert und geehrt wurden.

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