Erfurt. In einer Autobiografie wehrt sich Frei.Wild-Frontmann Philipp Burger gegen Nazi-Vorwürfe – die Thüringer Friedrich-Naumann-Stiftung lud ihn zur Lesung nach Erfurt ein

Der Abend ist eine Gratwanderung. Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat den Frontmann der Band Frei.Wild, Philipp Burger, in den Kaisersaal eingeladen. Er sei dafür teils heftigst angegriffen worden, sagt der Thüringer Stiftungsvertreter und Organisator Christian Poloczek-Becher. Burger ist Jahrgang 1981, stammt aus Südtirol und war in seiner Jugend einige Jahre lang radikaler Skinhead. Auch wegen diverser Liedtexte sieht sich Frei.Wild immer wieder mit Vorwürfen wegen zu großer Nähe zu Rechtsextremen konfrontiert. Dagegen wehrt sich Burger in seinem autobiografischem Buch „Freiheit mit Narben. Mein Weg von rechts nach überall“. Jeder Mensch habe doch eine Chance auf eine zweite Chance verdient, erst recht, wenn er sich selbst mit soviel schonungsloser Klarheit begegne, sagt Stephan Kaußen, Moderator des Abends und Co-Autor des Burger-Buches. Für Kaußen ist Burger ein Brückenbauer und ein „moderner Konservativer“.

Bei der Lesung im Kaisersaal stellte Philipp Burger auch Songs wie „Grenzland“ und „Recordman“ aus seinem Solo-Album „Kontrollierte Anarchie“ mit Leadgitarrist Mattia Mariotti (r.)  vor.    
Bei der Lesung im Kaisersaal stellte Philipp Burger auch Songs wie „Grenzland“ und „Recordman“ aus seinem Solo-Album „Kontrollierte Anarchie“ mit Leadgitarrist Mattia Mariotti (r.) vor.     © Hanno Müller | Hanno Müller

Mögen sich an Frei.Wild auch die Geister scheiden, für Hunderttausende Fans mischen sie seit gut zwei Jahrzehnten ganz vorn mit unter den deutschsprachigen Rockbands. Gut 340 sind in den Kaisersaal gekommen. Viele tragen T-Shirts mit Schriftzügen und Logos der Band. Tickets gab es keine, Einladungen erfolgten über die Naumann-Stiftung oder über die Frei.Wild-Familie, wie der Lesende mehrfach am Abend betont. Danach gefragt, wer das Buch bereits besitze, gehen so ziemlich alle Arme in die Höhe. Den Musikpreis Echo, für den man der Band noch 2013 die Nominierung wieder entzog, hat Frei.Wild inzwischen bekommen. Inzwischen ist Burger nicht zuletzt Familienmensch mit zwei Töchtern im – wie er sagt – schwierigen Alter von 13 und 14 Jahren, außerdem ArcheHof-Besitzer und Handwerker. Erlöse seines Charity-Engagements „Wilde Flamme“, einer multinationalen Band, kommen sozialen Projekten zugute.

Auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung war Frei.Wild-Frontmann Philipp Burger (r.) zu Gast im Kaisersaal in Erfurt. Im Gespräch mit Moderator und Co-Autor Stephan Kaußen (Mitte) sprach er über sein Buch „Freiheit mit Narben“. Außerdem stellte er Songs aus seinem Solo-Album „Kontrollierte Anarchie“ mit Leadgitarrist Mattia Mariotti (l.) vor.    
Auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung war Frei.Wild-Frontmann Philipp Burger (r.) zu Gast im Kaisersaal in Erfurt. Im Gespräch mit Moderator und Co-Autor Stephan Kaußen (Mitte) sprach er über sein Buch „Freiheit mit Narben“. Außerdem stellte er Songs aus seinem Solo-Album „Kontrollierte Anarchie“ mit Leadgitarrist Mattia Mariotti (l.) vor.     © Hanno Müller | Hanno Müller

Herdendynamik verhindert selbstständiges Denken

Und doch ist da wohl immer noch viel aufzuarbeiten. Seine Zeit in der rechten Skinhead-Szene Südtirols mit kahl rasierter Fratze sei die beschissenste seines Lebens gewesen, auch weil da auf dem Rückspiegel extrem eklige Scheiße klebe, sagt der Musiker. Er habe andere Menschen gehasst, die er gar nicht kannte, und offensichtlich zu wenig Selbstbewusstsein gehabt, um dem Gruppendruck zu widerstehen – andererseits sei er häufig selbst dafür verantwortlich gewesen, ihn zu erzeugen. Überhebliches, radikales, rassistisches oder ausgrenzendes Gedankengut führe in schlimme Sackgassen und zu unfassbar viel Leid und Elend. „Mit Herdendynamik bringt man sich um die Fähigkeit zum selbstständigen Denken. Wenn alle das Gleiche blöken, hört sich das Blöken richtig an. Ich werde nie aufhören, genau vor diesen falschen Wegen zu warnen“, sagt Burger.

Mehrfach fallen Begriffe wie „unschubladisierbar“, „Fehler-Vergeb-Kultur“ oder „Unterschiedlichkeitsberechtigung“. „Wir müssen wieder lernen, respektvoll und angstfrei Meinungsverschiedenheiten zu diskutieren“, sagt der Musiker. Im Kaisersaal funktioniert es. Genau das sei für ihn Freiheit im weitesten Sinne, schwärmt Veranstalter Poloczek-Becher auf der Bühne. Eine weitere Veranstaltungsbuchung soll es demnächst in Plauen in Sachsen geben.