Berlin. Hohe Energiepreise, Bürokratie, kaum wettbewerbsfähige Steuerbelastung: Die Probleme der Industrie können teuer werden für Deutschland.

Hat in Deutschland der industrielle Abstieg schon begonnen? Am ersten Tag der wichtigsten Industrieschau der Welt, der Hannover Messe, hat Deutschlands oberster Industrievertreter, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, genau davor gewarnt.

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Russwurm rechnet für das laufende Jahr mit einem erneuten Rückgang der Industrieproduktion und einer Stagnation der Exporte. „Die Industrie in Deutschland hat sich von den Kosten- und Nachfrageschocks, von zeitweise extrem hohen Energiepreisen und von der Inflation noch nicht erholt“, sagte Russwurm laut am Montag veröffentlichter Mitteilung.

BDI: Industrieproduktion nimmt keine Fahrt auf, auch beim Außenhandel droht Ungemach

Dem BDI zufolge kämpft die Industrieproduktion hierzulande mit anhaltenden Rückgängen. Deutschland falle daher in diesem Jahr weiter zurück. „Wir rechnen mit einem Minus in der Industrieproduktion um 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr“, sagte der BDI-Präsident. Etwas positivere Vorzeichen gebe es immerhin mit Blick auf den Außenhandel. Nach einem Export-Minus im vergangenen Jahr von 1,5 Prozent rechnet der BDI im Jahresverlauf immerhin mit einer schwarzen Null. Damit aber würde auch der Außenhandel – sonst einer der Wachstumstreiber – keinen positiven Impuls setzen.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm will Entlastungen für die deutsche Industrie.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm will Entlastungen für die deutsche Industrie. © dpa | Julian Stratenschulte

Die Bundesregierung geht davon aus, dass Deutschlands Gesamtwirtschaft in diesem Jahr um 0,3 Prozent wächst. Doch die Prognose wackelt jetzt schon. Führende Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen mit einem Schrumpfen der deutschen Wirtschaft – um minus 0,6 Prozent in diesem Jahr. Vor allem ein schleppender Konsum, weiter hohe Zinsen und neue Spannungen in der Welt sind Faktoren dafür. Viele Unternehmen schrauben daher eigene Investitionen zurück. Mit größeren Entlassungswellen rechnen Experten jedoch nicht. Arbeitskräfte sind in Deutschland nach wie vor knapp.

Welche Reformen Deutschlands Industrie jetzt dringend benötigt

BDI-Präsident Russwurm sieht nun vor allem politischen Reformbedarf: „Wir brauchen wettbewerbsfähige und langfristig planbare Energiepreise. Die Stromnetzentgelte müssen deutlich gesenkt werden und die Regierung muss die angekündigte Kraftwerksstrategie und die Wasserstoffstrategie schnell konkretisieren und mit Priorität umsetzen. Die Unternehmen benötigen außerdem dringend weniger Bürokratie“, erklärte er. Darüber hinaus seien auch geringere Unternehmenssteuern nötig. Er forderte ein „wettbewerbsfähiges Niveau von 25 Prozent“. Die aktuelle Belastung von knapp 30 Prozent sei ein „ernstzunehmender negativer Standortfaktor“, so Russwurm.

Es gibt bereits Firmen, die deswegen schon jetzt einen Bogen um Deutschland machen, sagte der Chef des ifo-Instituts, Clemens Fuest, dieser Redaktion. Laut Fuest steht die Industrie in Deutschland derzeit durch den wachsenden Protektionismus in anderen Ländern, die Energieverknappung, Dekarbonisierung, Digitalisierung und den Arbeitskräftemangel unter „hohem Anpassungsdruck“.

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Ifo-Chef Fuest warnt: Deutschland fällt wirtschaftlich zurück

„Damit können die Unternehmen umgehen“, so Fuest, und weiter: „Es kommen aber Belastungen durch wachsende Bürokratie, hohe Steuern und Unsicherheit über den Kurs der Wirtschaftspolitik hinzu. Insgesamt führt das dazu, dass die Unternehmen derzeit lieber in anderen Ländern investieren.“ Deutschland falle deshalb derzeit wirtschaftlich zurück, warnte der Ökonom.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, sieht hingegen die Schuld für die aktuelle schwierige Lage auch bei der Wirtschaft. „Die Industrie schadet sich selbst am meisten, wenn sie sich schlecht redet und Horrorszenarien malt. Die Industrie selbst trägt die größte Verantwortung für ihre schwierige Situation heute, denn manche Branchen – wie die Automobilbranche – haben in den letzten 15 Jahren wichtige Transformationen verschlafen und müssen jetzt ihren Rückstand aufholen“, erklärte Fratzscher gegenüber dieser Redaktion.

DIW-Präsident Fratzscher: Es wird keinen Industrie-Abstieg geben

In Deutschland werde es aber keinen Industrie-Abstieg geben, sondern einen Industriewandel. Auch die Politik müsse dabei ihren Beitrag leisten. „Die Bundesregierung muss mehr tun als bisher, um allen Unternehmen gute Rahmenbedingungen zu bieten, anstelle wie bisher riesige Subventionen an einzelne Unternehmen und Branchen zu zahlen“, forderte Fratzscher.

Die FDP im Bundestag sieht dringenden Handlungsbedarf, um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. „Klar ist doch, dass jetzt Maßnahmen folgen müssen. Steueranreize, weniger Bürokratie und ein effektiverer Sozialstaat sind Teil der Lösung. Jetzt nichts zu machen, bedeutet Wohlstandsverluste und das kann ja keiner wollen“, sagte der stellvertretende Fraktionschef der Liberalen, Christoph Meyer, unserer Redaktion. Meyer betonte, dass Bundeskanzler, Wirtschafts- und Finanzminister gemeinsam diese Handlungsnotwendigkeit für die Wirtschaft sehen. Alles Weitere werde nun Teil der Beratungen zwischen den Koalitionspartnern und müsse zusammen mit dem Haushalt 2025 gedacht werden, so Meyer.