Weimar. Das Eröffnungskonzert des Yiddish Summer Weimar mit Festvortrag entdeckt im jiddischen Projekt eine Anleitung zur heutigen Gesellschaftsgestaltung.

„In Jiddischland geht die Sonne nie unter“, sprach der Dichter Yoysef Opatoshu 1937 in Paris. Mag das, so für sich, nach Weltherrschaft klingen, als rede hier ein Karl V., so ist es doch anders gemeint. Weder sollte das Jüdische die Welt beherrschen noch die Welt das Jüdische. Vielmehr herrschte im Jiddischen (!) die Welt, da es doch überall auf ihr vorkam: bis zur Shoa von bis zu 13 Millionen Menschen gesprochen.

Sprache, Text, Kultur wurden ihnen „zur tragbaren Heimat“, wie Diana Matut doppeldeutig formuliert. Die Judaistin und Jiddistin (Uni Halle/Wittenberg) eröffnete den Yiddish Summer Weimar mit einem „Festvortrag“, ein Novum auf dem Festival, das in die neunzehnte Saison geht. Ein Festvortrag im engen Sinne war das zwar nicht, aber eine gelehrte und gewitzte Einführung in ein Gebiet, das wie eine Erfindung des Festivals selbst wirkt: Jiddischland. Erfunden hat’s jedoch der Internationale PEN-Club, als er 1927 die staatenlose jiddische Literatur aufnahm.

Vilnius wurde ungekrönte Hauptstadt, ansonsten galt, was Schriftsteller Itzik Manger im Jahr zuvor in Bukarest formulierte: „Die Atmosphäre unserer Dichtung ist die Welt.“

Es liegt darin die aufgeklärt-kosmopolitische Haltung von Menschen, die nun wirklich mit einigem Recht hätten behaupten können, ein Volk ohne (eigenen) Raum zu sein – und eben das nicht taten. Stattdessen vertraten sie, laut Matut, „ein radikal anderes Denken“, das in seiner Blüte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch „kaum verstanden“ wurde: die Idee von einer Nation als durchlässiger, pluralistischer Gesellschaft gegenseitiger kultureller Durchdringung — und Befruchtung. Das war „nur auf Grundlage einer lange zurückreichenden Diaspora-Erfahrung möglich“, so Matut. Wer nirgends richtig zu Hause war, heißt das wohl, kann’s leichter überall werden.

Die nämliche Erfahrung, muss man ergänzen, gebar aber auch jene Idee hebräischsprachiger Zionisten, die im Staat Israel mündete. Sie, nicht Jiddischland, wurde für einige rettendes Ufer – und hätte es, früher, für Millionen sein können. „Aus der Verheißung Jiddischland“ jedoch, wie Matut Isaac B. Singer (1943) zitierte, wurde so derweil: ein Gedächtnisort. Ihn wieder zur Verheißung zu machen, ist gleichsam Matuts Utopie: das jiddische Projekt als „Anleitung zur heutigen Gesellschaftsgestaltung“. Den Soundtrack lieferten sogleich das kalifornische Trio „Veretski Pass“ und Klarinettist Joel Rubin. Ihre Europa-Premiere „The Maggid Chronicles“ bereiste jenen Gedächtnisort, indem sie ethnographische Forschung aufsuchte, von der Matut sprach: in diesem Fall jiddische Volksmusik insbesondere von Frauen, die Sofia Maggid seit 1928 in ukrainischen und weißrussischen Schtetln der Stalin-Zeit (!) auf Wachswalzen bannte. Sie liegen im Musikarchiv der Uni Potsdam.

Ein historisches Projekt ist’s jedoch nicht, wie Geigerin Cookie Segelstein zu Recht betont. Mit neuen Kompositionen und Arrangements zu Suiten verbunden, verheißt die bejubelte Musik ein zukünftiges Weltreich durchlässiger Kulturnationen.

Vortrag und Konzert heute erneut: 20 Uhr, Kleine Synagoge, Erfurt