Marcus Schulze erinnert sich an die legendären Sprintduelle auf dem Rad zwischen Ludwig und Abduschaparow.

Meine Mutter kam an jenem Morgen in mein Zimmer. Sie weckte mich, gab mir – leicht euphorisch – zu verstehen, dass Olaf wohl gleich gewinnen werde. Olaf Ludwig, unser Olaf. Es war der 27. September 1988, die Olympischen Spiele wurden in Seoul in Südkorea ausgetragen und dank der Zeitverschiebung gab es die ersten Erfolgsmeldungen in Sachen Olympia schon am Frühstückstisch. Da versammelte sich die ganze Familie.

Ich schaute auf den klotzartigen Flimmerkasten im Beisein meiner Eltern und sah, dass unser Olaf sich abgesetzt hatte, der Sieg ihm nicht mehr zu nehmen war. Wahnsinn, der Local Hero aus Gera hatte am anderen Ende der Welt Gold gewonnen – und zwar noch vor der ersten Schulstunde! Auch im Unterricht wurde darüber geredet. Fast jeder in der Klasse wusste davon, und es fühlte sich so an, als ob alle, auch die gestrenge Lehrerin Frau John, an jenem Morgen Gold gewonnen hätte.

Olaf Ludwig war bereits vor seinem Triumph im Straßenrennen in Seoul das Idol vieler Kinder in Gera, schließlich gab es ja die Friedensfahrt, die eben auch an der Elster gastierte – und er war nun einmal ein Kind dieser Stadt. Selbstläufer. Und fast alle wollten bei den Rennen mit den Klappfahrrädern um den Block in der Betonwüste namens Lusan Olaf sein. Das wiederum nervte irgendwann ungemein – zumindest mich. Vielleicht waren es ja die ersten Anzeichen des aufkeimenden Quertreibers in mir, doch irgendwann wollte ich nicht mehr ein Olaf unter vielen Olafs sein, sondern lieber dessen Widerpart Dschamolidin Abduschaparow. Ein Name, der den Charme einer Maschinengewehrsalve versprühte und der von den Olaf-Jüngern innig gehasst wurde. Der Hauptgrund für die Ablehnung war in erster Linie sein Fahrstil, bei dem stets eine gewisse Todesverachtung mitschwang: der berühmt-berüchtigte „Schaukelstuhl“. Mir stockte jedes Mal der Atem, wenn der Usbeke beim finalen Sprint sein Rad unruhig von der einen auf die andere Seite warf. Unglaublich. Dass er von der Fachpresse dann auch noch den Spitznamen „Terror von Taschkent“ verpasst bekam, unterstrich sein Agieren wie ein Hasardeur auf dem Rennrad.

Mit „Abdu“ jedenfalls machte man sich unter Gleichaltrigen keine Freunde. Herrlich! Er war in gewisser Weise ein Anti-Held. So ein bisschen wie ein Protagonist aus einem Film von Sergio Leone oder Martin Scorsese. Einer, der ohne Rücksicht auf Verluste siegen wollte. Und manchmal eben auch besser war als der Konsens-Olaf aus Gera. Bei den Ankünften der Friedensfahrt auf Flachetappen wartete man vor dem heimischen Fernseher eigentlich nur auf das Duell der beiden Ausnahmesprinter. Duelle, wie sie seit jeher dem Sport eigen sind, wenn sich zwei Akteure auf Augenhöhe begegnen. McEnroe gegen Borg, Prost gegen Senna oder Ullrich gegen Armstrong.

Von 1987 bis 1989 trafen die beiden Ausnahme-Sprinter bei der Internationalen Friedensfahrt aufeinander. Insgesamt sechs Siege konnte der sowjetische Staatsamateur in jenen drei Jahren für sich verbuchen, während Ludwig zweimal den Gesamtsieg (1982/86) holte und 36 Etappen gewann. Nach dem Mauerfall wurden aus den Staatsamateuren Profis. Ludwig holte als erster Deutscher 1990 das Grüne Trikot bei der Tour de France und konnte zudem noch drei Etappen für sich entscheiden, darunter die Ankunft in Paris auf der Avenue des Champs-Élysées 1992. Dschamolidin Abduschaparow triumphierte indes bei sieben Etappen der Tour de France und sicherte sich dreimal das Grüne Trikot.

Als ich davon erfuhr, dass sich Olaf Ludwig und Dschamolidin Abduschaparow in diesem Sommer in Gera die Ehre geben werden, musste ich sofort an jenen Morgen im September 1988 denken – und natürlich auch an seinen Rivalen. Sie beide waren für mich das Tor zur Radsport-Welt, ein lokaler Held und ein vermeintlicher Bösewicht. Gleichzeitig erinnern sie mich stets an meine glückliche Kindheit, als Schulkinder auf Klappfahrrädern in den Straßen von Lusan darüber stritten, wer denn nun besser sei: Olaf oder Abdu.