Berlin. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wird der Blick auf das Erreichte kritischer. Es ist nicht zu spät, Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

Der Fall der Berliner Mauer, der den gesamten Eisernen Vorhang zum Einsturz brachte, war ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Es war eine Revolution ohne Waffen. Gesiegt hat nicht Gewalt, sondern eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit, Selbstbestimmung und auch nach mehr Wohlstand. Nach der Teilhabe an einer Entwicklung, die nur in Westdeutschland mit der Hilfe Amerikas so möglich war.

Unfassbare 30 Jahre sind seither vergangen. Ganze Generationen im Osten haben die tödliche Grenze nie gesehen und können sich nicht vorstellen, dass man seinen Job verlieren konnte, wenn man das falsche Fernsehprogramm einschaltete.

Wiedervereinigung: Blick aufs Erreichte wird kritischer

Mit der zeitlichen Distanz wird nun auch der Blick auf das Erreichte kritischer. Die Erfolge der Wiedervereinigung schlecht zu reden und der Aufstieg der AfD im Osten ist dabei ein parallel verlaufender Prozess. Daher ist es so wichtig, den Stand der Wiedervereinigung gerecht zu beschreiben und Geschichtsklitterung durch Rechte – aber auch Linke – zu verhindern.

Ja, es sind sicher Fehler gemacht worden. Aber für die Vereinigung zweier souveräner Staaten gab es keine Blaupause und – mit Blick auf die Dynamik dieses Prozesses – auch keine echte Alternative. Selbst der „Kanzler der Einheit“, Helmut Kohl, wurde von der Dramatik der Entwicklung überrascht und musste seinen Fahrplan zur deutschen Einheit umschreiben.

Aber es ist auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer nicht zu spät, Dinge zu ändern und Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Nur darf der Blick dabei nicht mehr ausschließlich auf den Osten gerichtet sein. Auch im Westen Deutschlands gibt es Abgehängte und Regionen, die dringend größerer Zuwendung bedürfen. Wenn es auch ihnen besser ginge, wäre dies gut für die gesamtdeutsche Seele.

Schlechte Stimmung im Osten resultiert auch aus westdeutscher Arroganz

Ein Teil der schlechten Stimmung im Osten resultiert weniger aus der materiellen Lage, sondern eher aus dem Bauchgefühl, noch immer von westdeutscher Arroganz dominiert zu werden. Daher braucht es zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands nach wie vor Fingerspitzengefühl, Empathie und die Bereitschaft, sich für die Lebenswirklichkeit der Ostdeutschen wirklich zu interessieren.

Schlagzeilen in westdeutschen Medien, die ganze Länder pauschal in die braune Ecke stellen, waren und sind Gift für das weitere Gelingen der Einheit. Ihre Wirkung ist schlimmer als manche Fehlentscheidung der staatlichen Treuhandanstalt. Blickt man auf die Fakten, hat der Osten zwar Nachholbedarf – aber der Trend stimmt.

Strukturpolitik wird zu Gesellschaftspolitik

Dass der Exodus Richtung Westen sich umgekehrt hat und mehr Menschen in den Osten Deutschlands ziehen, ist dabei ein besonders erfreuliches Zeichen. Wo viele Menschen leben, lieben und arbeiten ist Zukunft. Aber wo ein Bahnhof zugenagelt und das letzte Lebensmittelgeschäft geschlossen wird, hat die Sehnsucht nach alten und vermeintlich besseren Zeiten Platz.

So wird Strukturpolitik zwingend zur Gesellschaftspolitik, und da hat die Politik tatsächlich viel zu oft geschlafen. Und wenn Arbeitgeber von Weltkonzernen sich gelegentlich fragen, ob sie in ihren professionell durchgegenderten Teams und Chefetagen auch genügend ostdeutsche Erfahrung haben, wäre dies auch im Jahr 2019 kein Fehler.

Deutschland kann stolz auf das Erreichte sein

Grundsätzlich kann das Land 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sehr stolz auf das Erreichte sein. Niemand hat den Deutschen zugetraut, dass sie derart schnell diese Herkulesaufgabe bewältigen und dabei der Wirtschaftsmotor Europas bleiben.

Daher ist dieser Tag ein guter Anlass für Bürger und Politiker, inne zu halten und sich klarzumachen, welche Herausforderungen dieses Land meistern kann, wenn es wirklich darauf ankommt. Daran gemessen wirkt heute manches, um das erbittert gestritten wird, doch erschreckend klein.

Seite 4,5 Berichte