Brüssel. Beim Nato-Gipfel in London schien vieles harmonisch zu verlaufen. Doch das war nicht nur Zeichen von Einigkeit, sondern Ratlosigkeit.

Der große Krach ist ausgeblieben beim Nato-Jubiläums-Gipfel. Einer ausgeklügelten Regie des obersten Bündnis-Di­plomaten Stoltenberg ist es zu verdanken, dass sich die massiven Spannungen zwischen den Allianzpartnern nicht in einem großen Knall entladen haben. Doch die knappe Gipfelerklärung mit dem erneuten Bekenntnis zur Bündnissolidarität darf nicht missverstanden werden: Ausgeräumt ist keiner der Konflikte.

Nicht der Streit um die Lastenteilung, in dem der US-Präsident wieder düstere Andeutungen über die Grenzen der Beistandsverpflichtung machte, nicht der von Paris begonnene Konflikt um fehlende Abstimmungen und die langfristige Strategie – und nicht einmal der Ärger um die riskanten Alleingänge und Drohungen des türkischen Präsidenten Erdogan.

Die Nato steht nach dem Gipfel so ratlos da wie zuvor: Militärisch funktioniert das Bündnis noch hervorragend, aber der politische Kitt ist brüchig. Ob die Fortsetzung der bislang beeindruckenden Erfolgsgeschichte gelingt, ist ungewiss.

Nato scheut klare Stellungnahme zu China

Die Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse erschüttert das Selbstverständnis der Allianz. Die USA sehen zu Recht in China den neuen großen Rivalen, Russland spielt für sie auf längere Sicht nur noch eine untergeordnete Rolle. Das Reich der Mitte ist die große Herausforderung für den Westen insgesamt – aber die Nato als Verteidigungsbündnis ist durch den Aufstieg der fernöstlichen Großmacht einstweilen nur mittelbar betroffen.

Von einer militärischen Bedrohung kann mindestens in mittelfristiger Per­spektive nicht die Rede sein. Dass die Nato prüft, welche sicherheitspolitischen Konsequenzen die Machtausdehnung Chinas haben muss, ist richtig. Aber China ist nicht der neue Gegner der Nato, die europäischen Staaten haben an einer solchen Frontstellung auch keinerlei Interesse.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Hier wächst vielmehr ein neuer Spaltpilz im transatlantischen Verhältnis. Die osteuropäischen Nato-Mitglieder sehen sich nach wie vor existenziell durch Russland bedroht. Bündnispartner wie Frankreich blicken dagegen besorgt nach Afrika und in den Nahen Osten, auch wegen der dort entstehenden Terrorgefahren, und plädieren deshalb für weniger Konfrontation mit Russland. Und die Türkei pocht ungeduldig auf die Stabilisierung der Nato-Südflanke.

Die USA brauchen Europa, um ihren Anspruch als Weltmacht aufrechtzuerhalten

Aus Trumps Sicht ist das in erster Linie Angelegenheit der europäischen Partner. Die unterschiedlichen Bedrohungsanalysen sind die wesentliche Ursache für die Spannungen im Bündnis. Die Nato ist deshalb nicht obsolet. Europa braucht Amerika für seine Verteidigung – und die USA brauchen Europa, um ihren Anspruch als Weltmacht aufrechtzuerhalten.

Aber Bedeutung und strategische Ausrichtung dieser Allianz werden sich ändern. Europa muss mehr leisten und eigenständiger handeln: Die Europäer werden ohne die USA in der unruhigen Nachbarschaft vor allem im Süden und Südosten ihre Sicherheitsinteressen wahren müssen, was höhere Verteidigungsausgaben erzwingt, ganz ohne Trumps Drohgebärden.

Parallel dazu muss offen und entschlossen darüber gesprochen werden, wie die politische Erosion der Allianz gestoppt werden kann. Da war der Gipfel in London einerseits eine vertane Chance. Andererseits: Sehr viel hängt jetzt davon ab, ob Donald Trump Ende kommenden Jahres für eine zweite Amtszeit gewählt wird. Wenn ja, dann stehen der Nato vier weitere schwere Jahre bevor – ohne politische Führung, aber in ständiger Ungewissheit, ob sich die USA nicht doch schrittweise aus dem Bündnis verabschieden.