Ukraine-Russland-Krieg in Fotos: Eine Jugend im Krieg

Eigentlich sollten sie jetzt die beste Zeit ihres Lebens haben. Doch diese Jugendlichen leben nahe der Front, hören das Artillerie-Wummern, werden beschossen. Viele haben Eltern und Freunde verloren. Zukunftspläne? Erstmal überleben. Jan Jessen (Text) und Reto Klar (Fotos) waren in der Ukraine bei jungen Menschen, denen der Krieg die Jugend genommen hat.

Sofia (14) in Lyman: „Der Krieg hat im Laufe der Zeit den Schrecken für mich verloren“

Foto: Reto Klar

Am 24. Mai steht die Mutter von Sofia draußen auf der Straße vor dem Haus in Lyman. Sie backt Brot an einem selbstgebauten Ofen, als ein Geschoss einschlägt. Ein Mann kommt ums Leben, drei Menschen werden verletzt, darunter Sofias Mutter. Sie wird zur Behandlung in die West-Ukraine gebracht. Sofia bleibt beim Vater in Lyman. Er stirbt einen Monat später an einem Schlaganfall. Es ist die Zeit der russischen Besatzung Lymans. Jetzt lebt Sofia bei ihrer Tante und ihrem Cousin Fedor. An einer Kette trägt die 14-Jährige einen Anhänger, eine kleine Ikone der Mutter Gottes. „Ich fühle mich davon ein bisschen beschützt“, sagt sie.

Der Krieg, so sagt sie, „hat im Laufe der Zeit den Schrecken für mich verloren“. Wenn sie durch die Straßen ihrer zerstörten Stadt läuft, um mit dem Hund spazierzugehen oder Wasser zu holen, dann hört sie zwar das dumpfe Wummern der Artilleriegefechte, aber sie erschreckt sich nur noch selten. Die meisten ihrer Freundinnen und Freunde haben Lyman verlassen, online ist aber oft mit ihnen im Kontakt. Die Schule, die sie besucht hat, ist eine Ruine. Auch der Handarbeitsraum, den sie geliebt hat. Jetzt hat sie Distanzunterricht.

Karina und Victoria (beide 17) in Kurachowe: „Ich habe Angst, es nicht mehr bis zu meinem 18. Geburtstag zu schaffen“

Foto: Reto Klar

Die beiden jungen Frauen gehen schnell durch die Baumallee am Friedensplatz in Kurachowe. Es ist heute wieder ein schwieriger Tag in dieser Kleinstadt im Osten der Ukraine. Nur wenige Kilometer weiter östlich tobt die Schlacht um Marjinka, besser: um das, was einmal Marjinka war, weil diese Stadt nur eine Ruinenlandschaft ist. Immer wieder sind laute Explosionen zu hören. Victoria (rechts) lebt in einem Mehrfamilienhaus. „Unser Haus ist schon viermal beschossen worden. Es ist etwas anderes, vom Krieg aus den Nachrichten zu erfahren, oder es selbst zu spüren. Das ist sehr beängstigend.“ Vor der russischen Invasion im Februar 2022 sind die beiden Freundinnen oft nachts spazieren gegangen, sie waren auf Partys im Kulturzentrum oder im Skaterpark, wo sich die Jugend traf. Jetzt leben kaum noch junge Menschen in Kurachowe.

„Es gibt viele Einschränkungen, eine Ausgangssperre, die Schule ist zu, und wir haben Fernunterricht“, erzählt Karina. Manche ihrer Verwandten leben in den russisch besetzten Gebieten, um die hat sie Angst. Vor dem Krieg wollte sie Polizistin werden. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem goldenen Dreizack, dem Wappen der Ukraine, so wie manche Sicherheitskräfte tragen. Victoria hat von einer Karriere als Managerin geträumt. „Jetzt habe ich Angst, es nicht mehr bis zu meinem 18. Geburtstag zu schaffen.“ Denken sie oft an den Tod? „Ich versuche solche Worte nicht zu verwenden, denn Gedanken können sich materialisieren“, sagt Karina.

Fedor (14) in Lyman: „Ich schätze jetzt jeden Tag, den ich erlebe“

Foto: Reto Klar

Fedor hat immer getanzt. Als die Russen Lyman beschossen. Während der Besatzung. Nach der Befreiung. Fedor tanzt für sein Leben gern, sein Lieblingstanz ist der Tango. Er spielt Akkordeon, hört gerne klassische Musik, am liebsten Bach und Mozart. Gerade erst hat er eine Prüfung an der Musikschule bestanden, darauf ist er sehr stolz. Als die russischen Streitkräfte zwischen Ende Mai und Anfang Oktober 2022 seine Heimatstadt im Nordosten der Ukraine besetzt hatten, da hat der 14-Jährige zu Hause getanzt. Dieses Zuhause gibt es nicht mehr, die Wohnung, in der er mit seiner Mutter und seiner Cousine Sofia lebte, ist zerstört.

In Lyman gibt es nur noch wenige Gebäude, die nicht beschädigt sind oder in Trümmern liegen. Jetzt haben sie in der Wohnung eines Nachbarn, der die Stadt verlassen hat, Obdach gefunden. Fedor sagt: „Ich habe durch den Krieg den Wert des Lebens mehr schätzen gelernt. Ja, ich schätze jetzt jeden Tag, den ich erlebe.“ Am 13. Februar 2023 ist Fedor knapp dem Tod entronnen. Er ist draußen, als ein russisches Geschoss einschlägt. Ein großer Glassplitter bohrt sich in seinen Hinterkopf. Fedor überlebt. „Der Arzt hat gesagt, ich sollte diesen Tag als meinen zweiten Geburtstag ansehen“.

Amina (19) in Mykolajiw: „Wir haben im Keller gesessen und gehofft, dass wir überleben“

Foto: Reto Klar

Amina liebt Blumen. Sie will Floristin werden. Amina steht mit ihrer Mutter in dem kleinen Blumenladen an der Hauptstraße von Mykolajiw, so wie fast jeden Tag seit vier Jahren. Als die Großstadt im Süden der Ukraine nach dem Beginn des russischen Überfalls im Februar 2022 unter schwerem Beschuss stand, war das etwas, das seinen Schrecken für Wie schon Jahre zuvor verloren hatte. „Der Krieg hat mein Leben schon vor der Invasion beeinflusst. Wir kommen aus Vuhlehirsk.“ Vuhlehirsk, das ist eine Kleinstadt in der Oblast Donezk. Als die prorussischen Separatisten vor neun Jahren in der Region nach der Macht griffen, wurde Vuhlehirsk zerstört. „Es gab dort keinen Luftalarm. Wir haben einfach im Keller gesessen, die Explosionen gehört und gehofft, dass wir überleben.“

Sie schaffen es 2015 heraus aus der Vuhlehirsk und retten sich nach Mykolajiw. „Wir hatten große psychische Probleme.“ Anders als die meisten ihrer Freunde hat Amina nach der Invasion Mykolajiw nicht verlassen. „Im Vergleich zu Vuhlehirsk war die Situation in Mykolajiw in Ordnung.“ Und immerhin ist ihr Freund geblieben. Er ist 20. Amina hat Angst, dass er zur Armee geht und kämpft. „Wir reden da sehr häufig drüber“, sagt sie. Noch will er bei ihr in Mykolajiw bleiben.

Andriy (l., 18) mit Volodomyr (14) in Kurachowe: „Es gibt keine Jugend“

Foto: Reto Klar

Vor dem russischen Überfall im Februar 2022 war Andriys Clique groß. Sie waren 30, 40 junge Leute, spielten hinter der Schule Nr. 2 Fußball, Basketball, Volleyball. Mit seinen besten Freunden produzierte er Videos für TikTok oder Instagram. „Erwachsene haben unsere Clips wahrscheinlich nicht verstanden, sie waren sehr modern“, sagt er und lächelt. Jetzt ist die Schule Nr. 2 zerstört, die meisten Freunde sind weg, viele sind ins Ausland gegangen. Einer der wenigen, die noch da sind, ist sein Freund Volodomyr (14), mit dem er häufig in Kurachowe unterwegs ist. Seine Mutter und seine Schwester haben sich ebenfalls in Sicherheit gebracht. „Mein Stiefvater und ich sind geblieben. Es hört sich traurig an, aber unser Grab wird hier sein. Das ist meine Heimatstadt, ich bleibe hier bis zum Ende.“

Andriy träumt davon, Musiker zu werden, konkret: ein Beat-Produzent. Am liebsten hört er brasilianische Funk-Musik. Natürlich, sagt er sei er traurig, so viele Freunde nicht mehr sehen zu können. „Es wäre schön, wieder mit ihnen auf dem Fußballfeld oder dem Basketballfeld sein zu können, so wie früher, als ich jung war.“ Er arbeitet jetzt in einem Café. „In diesem Krieg ist die Kindheit direkt ins Erwachsensein übergegangen. Es gibt keine Jugend.“ Wenn die Armee ihn einziehen sollte, wäre er froh, sagt er. „Ich möchte mein Heimatland verteidigen. Ich möchte, das meine kleine Schwester aufwachsen kann, ohne Angst um ihr Leben haben zu müssen.“

Hleb (17) in Kramatorsk: : „Der Krieg hat mein Leben nicht nur zum Schlechten verändert“

Foto: Reto Klar

Hleb sitzt lässig auf dem BMX-Rad seines Freundes Andriy im Skaterpark von Kramatorsk in der Ostukraine. Der Krieg ist hier nicht weit weg. Immer wieder ertönt der Luftalarm, manchmal ist das Grollen der Front zu hören. Erst vor wenigen Tagen hat eine russische Rakete eine gut besuchte Pizzeria in Kramatorsk getroffen, elf Menschen starben bei der Explosion. Unter ihnen waren zwei 14-jährige Mädchen, Zwillingsschwestern. „Der Krieg hat mein Leben sehr verändert“, meint Hleb, „nicht nur zum Schlechten“. Zum Beginn der russischen Invasion flieht seine Familie in den Westen. Und Hleb beginnt, auf eigene Faust durch die Ukraine zu reisen. „Ich habe viele Städte besucht und viele neue Freunde gefunden.“

Jetzt lebt er mit seiner Familie wieder in Kramatorsk, viele der Orte, an denen er sich früher mit Kumpels getroffen hat, sind nicht zerstört, die meisten der alten Freunde aber weg. Ein Problem ist für ihn auch die Schule. Er müsste ein Examen machen, um für die Universität zugelassen zu werden. Sein Traum ist es, Modedesigner zu werden. Aber das müsste er in Kiew machen, wo er zuletzt zur Schule gegangen ist. An seinem rechten Unterarm hat Hleb ein Tattoo, eine Elfe, er mag Fantasy und Science-Fiction. Und er ist ein großer Fan von Lizzz. „Das ist ein Russe, aber er ist gegen den Krieg, und er hat tolle Texte. Er singt über das Leben, seine Probleme mit Drogen, seine Familie“.

Zoya (l., 11) und Olya (15) in Nju-Jork: „Wenn ich überlebe, möchte ich Köchin werden“

Foto: Reto Klar

Olya und Zoya laufen am alten Kulturzentrum vorbei, einem braun-rötlichen Backsteingebäude, an dem eine kleine Tafel an die deutschen Gründerväter Nju-Jorks erinnern. Die Fenster des Hauses sind zersplittert, auf der verrammelten Eingangstür warnt eine Aufschrift vor Minen. Geschützdonner und Explosionen unterbrechen immer wieder die geisterhafte Stille, die in der fast menschenleeren Stadt herrscht. Nju-Jork, manchmal auch New York geschrieben, wie die US-amerikanische Metropole, ist seit vielen Jahren Frontstadt. Wenige Kilometer östlich liegt die Großstadt Horliwka, die 2016 größtenteils von prorussischen Separatisten besetzt wird. Immer wieder wurde Nju Jork seitdem unter Feuer genommen.

„Nach dem Beginn der Invasion im vergangenen Jahr ist es schlimmer geworden. Es ist wirklich beängstigend, hier durch die Straßen zu laufen“, sagt Olya. Sie und ihre kleine Schwester Zoya müssen aber raus aus der Wohnung, um Wasser zu holen. Fließendes Trinkwasser gibt es schon lange nicht mehr in Nju-Jork. „Hier sind auch alle Läden kaputt, es gibt nur noch auf dem Markt manchmal etwas zu kaufen.“ Wenn sie zu Hause sind, sind sie häufig im Internet, um mit den Freundinnen und Freunden zu kommunizieren, die weggegangen sind. Die wenigen Menschen, die in der Stadt geblieben sind, sind alt. „Ich träume eigentlich nur noch davon, dass dieser Krieg irgendwann endet“, sagt Olya und ergänzt nach einer Pause: „Wenn ich überlebe, möchte ich Köchin werden“.

Bohdan (22) in Torezk: „Du sitzt einfach zu Hause und wartest darauf, dass ein Geschoss in deine Wohnung hineinfliegt“

Foto: Reto Klar

Zwischen den weißen Wohnblocks rollt der Donner der Geschütze und das Krachen der Einschläge. Bohdan reagiert nicht auf das Geräusch des Krieges. Es ist Alltag für ihn. Seit neun Jahren ist Torezk Frontstadt, nur wenige Kilometer entfernt liegt das von prorussischen Separatisten besetzte Horliwka. Der nie enden wollende Krieg beeinflusst sein Leben natürlich, sagt Bohdan. „Es gibt hier keine Möglichkeiten für Jugendliche. Du sitzt einfach zu Hause und wartest darauf, dass ein Geschoss in deine Wohnung hineinfliegt.“

Mit dem Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 ist es noch schlimmer geworden. Früher, da haben sie manchmal noch draußen im Park mit den Freunden zusammengesessen, geredet, getrunken, was Teenager so machen. Das ist vorbei. Bohdan würde gerne im Ausland arbeiten, wenn der Krieg vorbei ist, vielleicht in Übersee. „Mehr Pläne habe ich zurzeit nicht. Außer zu überleben.“

Herman (21) in Torezk: „Ich will einfach eine normale Zukunft haben“

Foto: Reto Klar

Das größte Problem in der Frontstadt Torezk sei der Stress, sagt Herman. „Es gibt keine Arbeit, nicht einmal Nebenjobs.“ Schon vor der russischen Invasion sei es nicht leicht gewesen, aber besser als jetzt, wo so viele Menschen Torezk verlassen haben. Herman ist geblieben, auch, weil er sich um seine Mutter kümmert. „Früher gab es definitiv weniger Probleme. Ich habe meiner Mutter geholfen, habe anderen Menschen geholfen.“ Mit seinen Freunden ist er oft ausgegangen, er hat eine Kochausbildung in Kramatorsk begonnen, aber jetzt lebt er in Torezk nur noch von Tag zu Tag.

Er ist oft zu Hause, dann hört er seine Lieblingsbands, Nirvana und Rammstein. Das Einzige, was er sich derzeit wünscht, ist, seine Ausbildung zu beenden und sich keine Gedanken mehr um einen Arbeitsplatz machen zu müssen. „Ich will einfach eine normale Zukunft haben.“ Herman ist in einem Alter, in dem andere junge Männer zur Armee gegangen sind. „Dafür sehe ich noch keinen Grund. Wenn es schlimmer wird, werde ich natürlich gehen müssen.“ Es macht ihm keine Angst, sagt er.


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