Berlin. Mehrere Wochen kämpft ein Mann aus Essen gegen die Folgen des Missbrauchs seiner Identität. Die Täter, so Experten, hätten leichtes Spiel.

Irgendwann denkt Manfred Stein (Name geändert) darüber nach, das Geld einfach zu überweisen, um seine Ruhe zu haben. „Ich hatte zu dieser Zeit echt viel um die Ohren“, sagt er. Doch dann besinnt er sich, schreibt weiter E-Mails, stellt Strafanzeige und bittet einen Anwalt um Rat. Der Familienvater aus Essen will nicht dafür bezahlen, dass seine Identität offenbar missbraucht worden ist. „Wie einfach es ist, sich im Internet Waren im Namen wildfremder Menschen zu bestellen – das ist doch Wahnsinn“, sagt er.

Im August 2020 erhält Stein im Auftrag des Onlinehändlers Zalando eine Zahlungsaufforderung der Sirius Inkasso GmbH. Diese soll eine offene Rechnung eintreiben – 403,11 Euro inklusive Zinsen. Weil Stein nicht bei Zalando eingekauft hat, legt er den Brief zur Seite. „Ich habe an eine gut gemachte Fälschung geglaubt“, sagt er. Wenige Tage später kommt der zweite Brief. Diesmal verlangt Sirius Inkasso 119,19 Euro. Stein greift zum Smartphone.

„Die Mitarbeiterin des Zalando-Kundenservice hat mir verraten, dass es fünf offene Forderungen gegen mich gibt“, sagt er. Der Essener widerspricht und verlangt die Herausgabe seiner Daten. Was ist wann in seinem Namen bestellt worden? Und wohin hatte Zalando die Sachen geliefert? Der Onlinehändler verweigert die Auskunft aus Gründen des Datenschutzes. Lesen Sie dazu auch: Datensicherheit: Mit diesen Tipps schützt man sich im Netz

Ein Konto und mehrere Bestellungen bei Zalando

Jetzt ruft Stein bei der Sirius Inkasso GmbH an. Er bekommt niemanden ans Telefon. Per Mail erfährt er, dass auf seinen Namen und mit einer ihm unbekannten E-Mail-Adresse ein Zalando-Konto eröffnet worden ist. Im Mai sei mehrfach Ware bestellt worden. Die im Konto hinterlegte Adresse ist alt. Seit vier Jahren wohnt Stein dort nicht mehr.

Zalando rät dem Essener, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Seine Daten seien wohl missbraucht worden. Danach, so heißt es in einer Mail, würde die Sache fallen gelassen. Stein befolgt den Rat. Er nutzt dazu das Online-Formular der Polizei. „Für mich war die Sache damit erledigt“, sagt er.

Die Sirius Inkasso GmbH sieht das anders. Stein bekommt einen Bescheid vom zentralen Mahngericht Berlin Wedding. 312,60 Euro soll er zahlen. Der Brief weist eine offene Rechnung aus, die Stein aus dem zweiten Sirius-Schreiben kennt, eine weitere Forderung sieht er zum ersten Mal.

Widerspruch gegen Mahnbescheid eingelegt

Stein widerspricht bei Gericht und leitet Widerspruch und Strafanzeige an Sirius Inkasso weiter. Wieder schreibt er Mails. Nach Prüfung der Unterlagen, so antwortet das Unternehmen, bleibe man dabei, „dass die Forderung gerechtfertigt ist“. Wenn Stein nicht zahle, drohe ein teures Verfahren vor Gericht. Im Anhang befindet sich ein Blankoschreiben für die Rücknahme des Widerspruchs. Lesen Sie dazu auch: Inkassoforderungen: Diese Rechte haben Verbraucher

Was Manfred Stein zwischen August und Oktober erlebt, nennen Polizei und Verbraucherschützer Waren- oder Warenkreditbetrug. Zwei Vorgehensweisen gehören dazu: Falsche Onlineshops liefern nach einer Bestellung gar keine oder minderwertige Ware. Oder Betrüger verschaffen sich Ware mittels gestohlener Identitäten. Sie bestellen auf Rechnung, fangen die Lieferung ab und zahlen nicht. Mehr als 290.000 Fälle sind 2019 angezeigt worden, teilt das Bundeskriminalamt mit. Seit Jahren verharren die Zahlen auf hohem Niveau.

„In Zeiten der Corona-Pandemie ist die Zahl der Beschwerden bei uns deutlich gestiegen“, sagt Jennifer Kaiser von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Täterinnen und Täter hätten leichtes Spiel. Name, Anschrift und eine E-Mail-Adresse seien ausreichend. Meist verlange keiner der Anbieter eine Verifizierung der Angaben, weder für das Kundenkonto noch für die E-Mail-Adresse.

Zalando will sich nicht zu dem Fall äußern

Wie genau die Betrüger im Fall Stein vorgegangen sind, ist offen. Eine Anfrage bei Zalando bleibt unbeantwortet. „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zu Häufigkeiten, Methoden oder konkreten Fällen aus Sicherheitsgründen grundsätzlich nicht äußern können“, erklärt eine Sprecherin.

Nach Angaben von Ermittlern und Verbraucherschützern nutzen Täter mitunter mehrere Wege, um an die bestellte Ware zu kommen: Sie lassen sich vom Paketdienstleister eine Statusmeldung an die neu eingerichtete E-Mail-Adresse senden, achten auf den Liefertermin und fangen das Paket auf der Straße ab. Dafür zeigen sie dem Boten die Statusmeldung auf dem Smartphone oder geben vor, ein Nachbar zu sein, der das Paket übergeben werde.

Eine zweite Masche führt über das Fach einer Paketstation. Das wird zeitlich begrenzt eingerichtet oder von Bekannten ausgeliehen. Die Ware wird dorthin bestellt und abgeholt.

Die für den Betrug benutzten Namen und Adressen stammen nach Angaben des Landeskriminalamts Berlin meist aus dem Internet. Manchmal würden sie auch aus dem Müll gefischt. Aufzuklären seien solche Delikte selten. In Berlin gelang dies den Angaben zufolge 2019 in 2000 von etwa 17.000 Fällen.

Geschädigte bemerken den Missbrauch spät

Die Geschädigten bemerken den Missbrauch erst, wenn die Schreiben der Inkassounternehmen eintreffen. „Die Rechnungen und Mahnungen werden meist per Mail verschickt“, erklärt Verbraucherschützerin Kaiser. So landeten auch diese bei den Betrügern. Nach ein bis drei Mahnungen übergäben die Onlinehändler die Sache an Inkasso-Dienstleister. Diese sollen das Geld hereinholen. Dann wird es formal.

Manfred Stein fand die Tonart des letzten Sirius-Schreibens einschüchternd. Als habe man den Druck erhöhen wollen, um doch noch an das Geld zu kommen, sagt er.

Die Sirius Inkasso GmbH erklärt auf Anfrage, im Fall Stein einen Fehler gemacht zu haben, für den sich das Unternehmen entschuldigt. Nach Meldung der Betrugsanzeige sei nur eines von zwei Inkassoverfahren gestoppt worden, erklärt Thomas Schauf, Bereichsleiter für Qualitäts- und Beschwerdemanagement. Das andere sei automatisch weitergelaufen. „So wurde zu diesem Vorgang ein Mahnbescheid und später ein Widerspruchsrücknahmeschreiben erstellt. Das war nicht gewollt und hätte nicht passieren dürfen.“

Die Hinweise seien legal und legitim

Grundsätzlich habe ein solches Schreiben aber seine Berechtigung. „Es liegt im Interesse aller Beteiligten, dass weitere kostenträchtige Maßnahmen nicht unangekündigt eingeleitet werden“, so Schauf. „Darum weisen wir mit einem angemessenen zeitlichen Vorlauf darauf hin, welche Maßnahmen in einem nächsten Schritt bevorstehen.“

Die Hinweise seien oft gesetzlich vorgegeben und nach höchstrichterlicher Rechtsprechung legal und legitim, so Schauf weiter. Die von Verbraucherschützern oft kritisierte Formsprache sei den hohen rechtlichen Anforderungen geschuldet. Abgesehen davon stellt Sirius fest: „Als Inkassodienstleister sind wir bei Identitätsdiebstahl der Überbringer der schlechten Nachricht. Politik und Verbraucherschutz sehen uns dabei oft fälschlicherweise in der Verantwortung.“

Polizei und Verbraucherschützer raten Betroffenen, einen Warenkreditbetrug mittels gestohlener Identität nicht auszusitzen. Man müsse Widerspruch einlegen, Anzeige erstatten und sollte auf keinen Fall bezahlen. Verbraucherschützerin Jennifer Kaiser: „Und wenn alles vorbei ist, sollte man seinen Eintrag bei der Auskunftei Schufa kontrollieren.“ Sonst könne es später eine böse Überraschung geben. Dann nämlich, wenn der Betrug bei der Schufa zu einer schlechten Beurteilung der Kreditwürdigkeit führe. Dies könne Probleme bei Einkäufen oder Vertragsabschlüssen verursachen. Auch interessant: Wie der Wohnort die Online-Bestellung durchkreuzen kann