Berlin. Viele Menschen leiden an psychosomatischen Beschwerden. Der Professor Johannes Kruse erklärt, wie man sie diagnostiziert und behandelt.

Sie werden oft nicht ernst genommen. Und doch führen psychosomatische Erkrankungen besonders häufig in die Frührente. Ein Gespräch mit Johannes Kruse, Direktor der Klinik für Psychosomatik am Uniklinikum Gießen und Marburg, über die Ursachen und Möglichkeiten der Therapie.

Herr Kruse, was unterscheidet psychosomatische Erkrankungen von psychischen Störungen wie Depressionen und Phobien?

Johannes Kruse: Die Grenzen sind fließend. Bei psychosomatischen Erkrankungen stehen stressbedingte körperliche Beschwerden im Zentrum. Die Patienten leiden unter funktionellen Beschwerden, für die keine körperliche Ursache gefunden werden kann, oder unter chronischen körperlichen Erkrankungen wie Diabetes und Herzerkrankungen. Immer betroffen ist das Wechselspiel zwischen Körper und Seele, so ist etwa jemandem der Stress auf den Magen geschlagen oder das Herz schwer geworden. Die Alltagssprache kennt diese Zusammenhänge sehr gut.

Welche Ursachen haben diese Beschwerden?

Chronischer Stress, berufliche Überforderungen, private Konflikte, starke Kränkungen, aber auch Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend können psychosomatische Erkrankungen mit auslösen. In der Regel gibt es nicht nur eine Ursache, aber der Stress spielt eine wesentliche Rolle. Dabei merken viele Menschen gar nicht, dass sie in einer mentalen Krise stecken, sondern nehmen nur die körperlichen Beschwerden wahr.

Wie äußern sich diese?

Die Beschwerden sind sehr vielfältig, sie reichen von Engegefühlen in der Brust, Herzbeschwerden, Atemnot, Durchfall, Schwindel, Zittern, Essstörungen über chronische Schmerzzustände, psychogene Anfälle und Lähmungen bis hin zur Verschlechterung chronischer körperlicher Erkrankungen.

Bei psychosomatischen Störungen sprechen einige Fachleute von einem Infarkt der Seele. Trifft es der Begriff also ganz gut?

Ich würde von einer Überforderung oder einem Hilferuf der Seele sprechen. Die Seele ist nicht beschädigt wie bei einem Infarkt, aber psychosomatische Störungen sind ein Anzeichen, dass die seelischen Kräfte nicht ausreichen, den Stress gut zu bewältigen. Sie sind wie ein Monitor, der uns anzeigt: „Es ist nun zu viel“.

Angenommen, jemand leidet an psychosomatischen Herzbeschwerden, wie läuft so eine Erkrankung ab?

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Eine 40-jährige Frau kam zu mir wegen eines immer wieder auftretenden Beklemmungsgefühls in der Brust, Veränderungen im Herzrhythmus und Schweißausbrüchen. Sie ließ ihr Herz sehr sorgfältig untersuchen, es fanden sich aber keine Anhalte für eine körperliche Erkrankung.

Trotzdem ging es der Frau nicht besser.

Genau. Sie hatte weiterhin die Beschwerden und große Sorgen, einen Herzinfarkt zu erleiden. Bei jedem unregelmäßigen Herzklopfen sagte sie sich: Hilfe, ich bin krank. In der Folge zog sie sich immer mehr zurück, wurde passiver, untrainierter und sah sich seltener in der Lage, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es kommt immer wieder vor, dass die Betroffenen arbeitsunfähig werden. Wir haben es mit einer der größten Patientengruppen zu tun, die frühzeitig berentet werden.

Psychosomatische Erkrankungen werden in der Gesellschaft oft belächelt. Die Patienten bilden sich entgegen der verbreiteten Auffassung die Schmerzen also nicht ein?

Nein. Also der unregelmäßige Herzschlag und das Beklemmungsgefühl in der Brust sind wirklich da. Genau wie die Rückenschmerzen oder der Schwindel im Kopf. Oder auch das Gefühl: Ich kann nicht mehr. Die Betroffenen sind körperlich und mental erschöpft. Weder bilden sie sich ihre körperlichen Beschwerden ein, noch täuschen sie diese vor. Diese Annahme begegnet den Patientinnen und Patienten viel zu oft. Auch seitens der Ärzte. Lesen Sie auch: Demenz: Studie erwartet drastischen Anstieg bis 2050

Prof. Dr. med. Johannes Kruse ist ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Uni-Klinik Gießen und Marburg.
Prof. Dr. med. Johannes Kruse ist ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Uni-Klinik Gießen und Marburg. © Privat | Privat

Wie gehen Sie bei der Behandlung vor?

Erst einmal muss der Arzt die Beschwerden ernst nehmen. Das heißt: genau zuhören und sich alle Beschwerden schildern lassen. Das ist leider selten in der Medizin. Bei psychosomatischen Störungen ist es wichtig, die körperliche und die psychische Seite gleichzeitig zu diagnostizieren. Wie bei der 40-jährigen Frau erfolgt einerseits eine gründliche somatische Diagnostik. Wir schauen uns aber auch an, welche Umstände zur seelischen Überlastung geführt haben. Die Patientin hatte sich gerade von ihrem Ehemann getrennt und sah zunächst überhaupt keinen Zusammenhang zu ihren Beschwerden. In der weiteren Behandlung erarbeiten wir mit der Patientin ein Verständnis, wie die seelischen und körperlichen Seiten zusammenhängen, und schauen uns die oftmals auf der Strecke gebliebenen Gefühle der Patienten an und suchen nach Wegen, mit der Situation besser umgehen zu können. Ergänzt wird die Behandlung oftmals durch Bewegung und Entspannungsverfahren. Es geht darum, nicht dem Körper weniger, sondern der Seele mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Was raten Sie den Betroffenen?

Zunächst sich an den Hausarzt zu wenden und mit ihm auch über die seelische Seite zu sprechen. Das kann schon sehr entlasten. Werden die Beschwerden chronisch, ist eine Psychotherapie oftmals notwendig, auch um zu lernen, in bestimmten Situationen Nein zu sagen, um sich vor Überforderung zu schützen. Es mag banal klingen, aber viele Patienten müssen das erst lernen.

In einigen Fällen ist aber auch eine stationäre Behandlung sinnvoll.

Ja. Wir erleben Patienten, die teilweise seit mehreren Jahren an multiplen Schmerzen wie Tinnitus, Essstörungen und Schwindel leiden. Sie haben alle möglichen Untersuchungen hinter sich, sind seit Langem krankgeschrieben und zutiefst verunsichert, manchmal auch depressiv. Die stationäre Behandlung in der psychosomatischen Klinik erlaubt eine Hochdosis-Psychotherapie in einem geschützten Raum. Und es geht um oftmals basale Dinge: Die Patienten sollen sich und ihren Körper besser kennenlernen, spüren, wie er auf Stress reagiert, und neue Wege finden, mit Belastungen umzugehen. Daher integrieren wir Entspannungsübungen, Tai-Chi, Yoga und andere kreative Therapieverfahren wie Kunst- und Musiktherapie in die psychotherapeutische Arbeit. Diese Kombinationsbehandlungen sind sehr wirksam.

Noch eine Frage zur Selbstfürsorge: Was kann ich für eine gesunde Seele tun?

Es ist enorm wichtig, sich Raum für soziale Beziehungen zu nehmen und offen mit eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer umzugehen. Wenn uns etwas bedrückt oder belastet, sollten wir darüber reden, am besten funktioniert das mit einer Vertrauensperson. Sinnstiftende Tätigkeiten sind für das seelische Gleichgewicht ebenso zentral. Und ich empfehle kreative Tätigkeiten, bei denen wir abschalten können. Sei es Schreiben, Musikmachen, Kochen und Sport.

Zur Person:

Johannes Kruse (63) ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Seit 2011 arbeitet er als ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Zudem gehört Kruse dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie an.

Dieser Artikel ist zuerst auf abendblatt.de erschienen.