Berlin. Die deutsche Windkraft-Industrie steckt in einer tiefen Krise. Kann sie noch gerettet werden, oder scheitert daran die Energiewende?

Ende Juni hat der Windkraftanlagenhersteller Nordex seine Fabrik in Rostock geschlossen. Das ist wieder einmal eine schlechte Nachricht für die Branche, die eigentlich eine zentrale Rolle bei der Energiewende in Deutschland spielt. Die Fertigung der langen Flügel für Windkraftwerke wurde eingestellt. Etwa 600 Beschäftigte haben ihren Arbeitsplatz verloren und müssen sich umorientieren.

Der deutschen Windindustrie geht es derzeit gar nicht gut. Erinnerungen an den Zusammenbruch der hiesigen Solarindustrie vor zehn Jahren kommen hoch.

Die ökonomische Situation steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu den aktuellen politischen Entscheidungen. Schließlich ist die Bundesregierung gerade dabei, ein gigantisches Ausbauprogramm für Ökostrom auf den Weg zu bringen. Was ist los in der Branche?

So viele Arbeitsplätze sind in der Windindustrie schon verloren gegangen

Die schlechte Laune dominiert dort spätestens seit dem Jahr 2018. Damals brach der Neubau von Windkraftkraftwerken in Deutschland massiv ein. Wurden davor regelmäßig über 1000 Rotoren jährlich errichtet, waren es danach nur noch ein paar Hundert. Die Hersteller der Anlagen bekamen Probleme.

Große Firmen wie Enercon verringerten die Zahl ihrer Beschäftigten. Und die Krise strahlte in die Nachbarländer aus. Auch der dänische Hersteller Vestas, einer der größten in Europa und weltweit, schloss Fabriken. Hierzulande sank die Zahl der Arbeitsplätze um ein Drittel unter 100.000.

Kommentar zum Thema: Wie Wind und Sonne für mehr Freiheit sorgen

Ausgelöst wurde dieser Einbruch durch eine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. „Die Deckelung des Ausbaus durch die früheren Bundesregierungen war der wesentliche Grund dafür, dass Werke geschlossen wurden und Arbeitsplätze verloren gingen“, sagt Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie (BWE), der die Unternehmen in der Branche vertritt.

Russlands Krieg beschleunigt den ­Abschied von fossilen Energien

Während die Betreiber von Windrädern vorher politisch beschlossene und oft sehr lukrative Zuschüsse erhielten, bekamen danach im Prinzip nur noch die billigsten Anbieter eine staatliche Förderung. Außerdem zog die große Koalition aus Union und Sozialdemokraten eine relativ niedrige Obergrenze für den jährlichen Neubau ein. Die politische Absicht dahinter war unter anderem, die ins Kraut schießenden Kosten für Verbraucher und Wirtschaft einzudämmen, die sich in den steigenden Strompreisen niederschlugen.

Aus heutiger Sicht mutet das seltsam an – war doch bereits 2015 das Pariser Abkommen zum Klimaschutz beschlossen worden. Trotzdem nahm der Gegenwind in Deutschland insgesamt zu. „Rechtliche Konflikte mit dem Artenschutz und restriktive Flächenausweisungen haben den Ausbau in den Folgejahren erheblich gehemmt“, erklärt Simon Müller, Direktor bei der Organisation Agora Energiewende. „Dadurch sank die Nachfrage nach neuen Anlagen in Deutschland stark, und Firmen suchten sich andere Märkte.“

Mittlerweile aber hat sich die Stimmung gedreht. Ausschlaggebend war die Protestbewegung Fridays for Future der Umweltaktivistin Greta Thunberg. Die Grünen sitzen nun in der Bundesregierung. Und der russische Angriff auf die Ukraine beschleunigt den Abschied von den fossilen Energiequellen. So will die Bundesregierung nun die Leistung der Windkraftwerke an Land in den kommenden zehn Jahren ungefähr verdoppeln.

Aber ist die angeschlagene Branche überhaupt in der Lage, das zu leisten? „Die neuen ehrgeizigen Ausbauziele können das Heruntertrudeln der Windindustrie in Deutschland und Europa auffangen“, sagt Verbandschef Axthelm. „Noch ist genug Substanz vorhanden.“

Konkurrenz aus China – warum sie bislang keine Rolle spielt

Der Unterschied zur Solarkrise vor zehn Jahren: Damals verschwand die Herstellung der Photovoltaikzellen, eine Kerntechnologie, aus Deutschland fast komplett, weil sie unter anderem der chinesischen Billigkonkurrenz nicht gewachsen war. In der Windindustrie sieht es jedoch anders aus.

Die zentralen Komponenten der Windkraftwerke – Gondeln, Getriebe, Generatoren, Türme – werden in Europa gefertigt. Die Wertschöpfungskette ist noch nahezu komplett. Außerdem spielt die Konkurrenz der chinesischen Unternehmen auf dem Weltmarkt bisher keine entscheidende Rolle, die dortigen Firmen fertigen vor allem für ihren Heimatmarkt.

Die Chancen für die Renaissance der Windindustrie stehen also nicht schlecht. Die Entwicklung wird aber davon abhängen, wie schnell sich aus dem Politikwechsel konkrete Aufträge für die Industrie ergeben werden.

Mehr zum Thema: Energiewende: Mehr Tempo für Strom aus Sonne und Wind

„Insbesondere bei der Lösung des ­Artenschutzkonflikts und bei der Bereitstellung von Flächen sehe ich noch Nachbesserungsbedarf“, sagt Agora-Direktor Müller. Er wie auch andere Experten glauben, dass Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck, Umweltministerin Steffi Lemke (beide Grüne) und Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) mit ihren Gesetzentwürfen bislang nicht die notwendigen Voraussetzungen für einen baldigen Bauboom geschaffen haben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf abendblatt.de.