Paris. Renaissance der Atomenergie? Davon kann in Frankreich keine Rede sein. Warum die Lage peinlich und zugleich besorgniserregend ist.

Es mutet wie ein schlechter Witz an. Da ist es Paris nach langem Ringen endlich gelungen, der Atomkraft von der Europäischen Kommission das Siegel der Nachhaltigkeit verleihen zu lassen, und da droht der zu 70 Prozent von Kernkraftwerken gesicherten Stromversorgung des Landes der Zusammenbruch. Der Grund? 28 der 56 Reaktoren, die Frankreich an 18 Standorten unterhält, mussten aus Sicherheitsgründen vom Netz genommen werden.

Für 61,4 Gigawatt konzipiert, liefert der französische Kernkraftwerks-Park derzeit weniger als 30 Gigawatt. So wenig Strom haben französische Meiler noch nie produziert, seitdem sie Ende des 20. Jahrhunderts ihren heutigen Bestand erreicht hatten. In den wärmeren Monaten des Jahres mag sich das (gerade noch) verkraften lassen, doch ab dem Herbst steht die Sicherheit der Stromversorgung von Industrie und Haushalten auf der Kippe.

Die Situation ist nicht nur besorgniserregend, sondern auch peinlich. Zumindest für Staatspräsident Emmanuel Macron. Der hatte erst im Februar eine „Renaissance“ der Atomenergie und den Bau von sechs neuen Druckwasserreaktoren angekündigt. Eine Entscheidung, die Macron als wichtigen Beitrag auf dem Weg zur Klimaneutralität verkaufte.

Frankreich: Vor allem die älteren Meiler stehen still

Die Realität freilich verweist solche Ambitionen fürs Erste ins Reich des Wunschdenkens. Die Probleme nämlich, die die staatliche Elektrizitätsgesellschaft EDF mit dem hohen Alter ihrer Meiler hat, lassen sich nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen. Vier Fünftel der Reaktoren werden bis 2027 ihre vorgesehene Lebensdauer von 40 Jahren erreichen, acht von ihnen haben sie bereits überschritten. Ein Umstand, der den Wartungsaufwand ständig in die Höhe treibt und zu immer längeren Abschaltungen führt.

Tatsächlich sind unumgängliche Wartungsarbeiten dafür verantwortlich, dass derzeit 16 der älteren AKW stillstehen. Allerdings gehören weitere 12 Meiler, die ebenfalls vom Netz genommen werden mussten, der jüngsten Generation an. Bei ihnen wurde Rost in den Kühlsystemen entdeckt.

Hitzewellen machen den Atomkraftwerken Probleme

Wegen der frühen Hitzewellen in diesem Jahr – den frühesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – mussten zudem mehrere Atomkraftwerke gedrosselt werden. Davon betroffen sind unter anderem das Atomkraftwerk Blayais an der Gironde und Saint-Alban an der Rhone. Beide Flüsse führten so wenig Wasser, dass das warme Kühlwasser die Flüsse zu sehr aufgeheizt hätte. Derzeit sind insgesamt sechs Atomkraftwerke unter erhöhter Aufsicht, bei denen es bei weiteren Hitzeperioden zu Problemen kommen könnte.

EDF hätte also schon längst neue Kernkraftwerke auflegen müssen, wenn Frankreich weiterhin hauptsächlich auf Atomstrom setzen will. Doch dahinter standen im letzten Jahrzehnt einige Fragezeichen. So schrieb ein 2014 verabschiedetes Energiewendegesetz die Verringerung des Atomstromanteils am Energiemix von damals 75 auf 50 Prozent vor – und zwar bis spätestens 2025.

Erst die jüngst von Macron ausgerufene Kehrtwende macht klar, dass auch die Zukunft der französischen Stromversorgung überwiegend strahlend, sprich nuklear sein soll. Bloß wird es eine Weile, nämlich 12 bis 15 Jahre, dauern, bevor die nun beschlossenen sechs neuen Kernkraftwerke fertiggestellt sind.

Dieser Artikel erschien zuerst auf abendblatt.de.