Berlin. Die Ampel-Koalition will ab dem 1. Oktober den Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Welche Berufsgruppen besonders profitieren werden.

Eine „Gehaltserhöhung für 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger“ hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Wählerinnen und Wählern im Wahlkampf versprochen. So viele werden es am Ende nicht sein, die voraussichtlich ab Oktober mehr Geld im Portemonnaie haben werden.

Und doch werden sich rund 6,19 Millionen Beschäftigte auf ein deutliches Lohnplus freuen können. Denn ab Oktober soll der gesetzliche Mindestlohn auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden.

Mindestlohn: 12 Euro sollen zum 1. Oktober kommen

Die Ampel-Koalition drückt bei der Umsetzung des zentralen Wahlkampfversprechens von Olaf Scholz aufs Tempo. Am kommenden Mittwoch soll ein Gesetzesentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Bundeskabinett passieren. Geplant ist derzeit, dass die Erhöhung zum 1. Oktober greift.

Wird die Anhebung wie geplant umgesetzt, dürften vor allem Frauen profitieren. Das geht aus einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hervor, die unserer Redaktion vorliegt.

Jede fünfte weibliche Beschäftigte würde von höherem Mindestlohn profitieren

Denn derzeit erhält fast jede fünfte Beschäftigte einen Stundenlohn, der unter 12 Euro liegt – in Summe macht das mehr als 3,5 Millionen Frauen, die sich ab Oktober über ein deutliches Lohnplus freuen dürfen.

Deutliche Unterschiede gibt es zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Absolut gesehen profitieren mit 5,11 Millionen Beschäftigten zwar fast fünfmal so viele West- wie Ostdeutsche von der geplanten Anhebung – doch die 1,08 Millionen Ostdeutsche machen immerhin 21,6 Prozent aller Beschäftigten im Osten aus, die künftig mehr Geld zur Verfügung haben werden.

Arbeitgeber lehnen politische Mindestlohn-Anhebung auf 12 Euro ab

Politisch ist die Anhebung umstritten. Arbeitgeberverbände klagen über einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie. Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeber (BDA), hatte im vergangenen Jahr im Gespräch mit unserer Redaktion davor gewarnt, dass mit der Anhebung in über 190 Tarifverträge eingegriffen und über 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen überflüssig gemacht werden würden.

Die Arbeitgeber dringen derzeit auf eine Übergangsfrist im geplanten Gesetz – als der Mindestlohn im Jahr 2015 mit 8,50 Euro eingeführt wurde, hatten die Arbeitgeber zwei Jahre Zeit, um die Vorgabe umzusetzen.

Beschäftigte im Handel und im Gastgewerbe hätten mehr Geld

Eine ähnlich gelagerte Übergangsfrist würde den politischen Eingriff nahezu überflüssig werden lassen. Denn der Mindestlohn wird regelmäßig angepasst. Zum Jahresbeginn stieg er von 9,60 Euro um 22 Cent auf 9,82 Euro pro Stunde, zum 1. Juli wird er planmäßig auf 10,45 Euro angehoben.

Bleiben SPD, Grüne und FDP bei ihrem Plan, ab Oktober den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben, würde das eine Lohnerhöhung um 15 Prozent im Vergleich zum Juli-Wert und sogar um 22,2 Prozent verglichen mit dem derzeitigen Wert bedeuten.

Beschäftigte im Handel und im Gastgewerbe würden profitieren

Während die Beschäftigten mehr Geld im Portemonnaie hätten, kommen auf die Unternehmen höhere Lohnkosten zu. Besonders betroffen ist dabei der Handel. 1,27 Millionen der Beschäftigten im Handel würden laut den Daten des Statistischen Bundesamtes von einer Anhebung des Mindestlohns profitieren.

Hoch ist mit rund 660.000 Beschäftigten auch der Anteil in der Gastronomie und Hotellerie, die mehr Geld in der Tasche hätten – fast zwei Drittel der in der Branche Beschäftigten würden somit profitieren. Denn das Gastgewerbe ist in einem besonderen Maße von Minijobbern und Teilzeitbeschäftigten abhängig – die beiden Beschäftigungsarten machen mehr als drei Viertel aller Beschäftigten aus, denen ein höherer Mindestlohn nützt.

In der Produktion würden 800.000 Beschäftigte mehr Geld erhalten

Mehr als eine halbe Million Menschen, die im Gesundheits- und Sozialwesen tätig sind, würden den Daten der Wiesbadener Behörde zufolge ebenfalls profitieren. In den Bereichen Erziehung und Unterricht hätten rund 113.000 Beschäftigte mehr Geld, in der Kunst-, Unterhaltungs- und Erholungsbranche sind es rund 115.000 Beschäftigte.

Profiteure wären auch Beschäftigte im produzierenden Gewerbe, also zum Beispiel in der Müllbeseitigung, im Bergbau, in der Baubranche oder im verarbeitenden Gewerbe, zu denen etwa die Textilbranche, die Lebensmittelbranche oder auch die Möbelindustrie zählen. Knapp 800.000 Beschäftigte in der Produktion hätten durch einen Mindestlohn von 12 Euro mehr Geld zur Verfügung.

„Besonders in den systemrelevanten Branchen, im Handel, im Gesundheits- und Sozialwesen, im Speditions- und Lagereigewerbe und in der Gastronomie, werden die 12 Euro zu deutlichen Verbesserungen führen“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell unserer Redaktion.

Wird die Mindestlohnkommission torpediert?

Körzell ist Mitglied der Mindestlohnkommission, die über die regelmäßigen Anpassungsschritte der gesetzlichen Lohnuntergrenze entscheidet.

Die Kommission setzt sich je aus drei Vertretern der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sowie mit den Ökonomen Lars Feld, früherer Chef der sogenannten Wirtschaftsweisen und seit kurzem Berater von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), und Claudia Weinkopf, stellvertretenden Direktorin des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) zwei wissenschaftlichen Vertretern zusammen. Jan Zilius, der früher sowohl als Manager als auch als Gewerkschaftsvertreter war, sitzt der Kommission vor.

Der politische Eingriff torpediere die Arbeit der Kommission und mache sie überflüssig, kritisieren Arbeitgeberverbände. Der Mindestlohn sei 2015 bei der Einführung zu niedrig angesetzt worden, die Anhebung daher notwendig, halten Arbeitnehmervertreter dagegen. „Vor allem da, wo es keinen Tarifschutz gibt, weil die Arbeitgeber sich Tarifverhandlungen verweigern, brauchen wir die 12 Euro als unterste Haltelinie“, sagte Körzell.

DGB hofft auf Schub für die Konjunktur

Der Gewerkschafter erhofft sich mit der Lohnanhebung auch positive Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. Denn die Kaufkraft würde laut Körzell um rund 4,8 Milliarden Euro pro Jahr gestärkt werden, andere Berechnungen gehen sogar von 9,8 Milliarden Euro aus.

„In Zeiten pandemiebedingter wirtschaftlicher Einbrüche ist dies eine wichtige Konjunkturstütze, denn ein Großteil der zusätzlichen Einkommen wird unmittelbar in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen.“ Auch würde der höhere Mindestlohn zur Finanzierbarkeit und zum Schutz der Sozialversicherungen führen, sagte Körzell.

Auch in anderen Jobs dürfte es mehr Geld geben

Doch nicht nur in den Jobs, in denen derzeit weniger als 12 Euro gezahlt werden, dürfte es künftig mehr Geld geben. Viele Beschäftigte, die derzeit um die 12 Euro verdienen, werden ebenfalls einen höheren Lohn einfordern, wenn diejenigen, die bisher wenig verdienen, bei den Gehältern aufschließen.

Die höheren Kosten werden voraussichtlich auf Produkte umgelegt werden, wie beispielsweise die Bäcker bereits ankündigten. Kurzfristig könnte das die Inflation weiter anheizen – mittel- und langfristig rechnen die meisten Ökonomen aber nicht mit einer höheren Inflation aufgrund des höheren Mindestlohns.

In sechs europäischen Ländern ist der Mindestlohn derzeit höher

Mit der geplanten Anhebung würde Deutschland das Land mit dem zweithöchsten Mindestlohn innerhalb der Europäischen Union werden. Das geht aus einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor.

Während die gesetzliche Lohnuntergrenze in Bulgarien nur 2,00 Euro pro Stunde beträgt, liegt er in Luxemburg bei 13,05 Euro. Auch in den Niederlanden (10,58 Euro), Frankreich (10,57 Euro), Irland (10,50 Euro) und Belgien (10,25) ist der gesetzliche Mindestlohn derzeit höher als in Deutschland. Mit der Anhebung auf 12 Euro hätte Deutschland also hinter Luxemburg den zweithöchsten Mindestlohn innerhalb der EU.

In den weiteren deutschen Nachbarländern Dänemark, Österreich und der Schweiz gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn. In Polen (3,81 Euro) und Tschechien (3,76 Euro) liegt er deutlich unter der deutschen Lohnuntergrenze. Im Vergleich zum nationalen Lohnniveau liegt der Mindestlohn laut WSI derzeit hierzulande bei 50,7 Prozent. Als angemessen empfehlen die Forscher ein Niveau von mindestens 60 Prozent, wie es beispielsweise in Neuseeland, Korea und Frankreich erfüllt werde.