Berlin. Monologe statt Streitkultur: ARD-Talk zu Lockdown und den Perspektiven der Pandemiepolitik enttäuscht trotz hochkarätiger Besetzung.

  • Bei "Anne Will" herrschte am Sonntag große Einigkeit
  • Statt über Corona-Maßnahmen zu diskutieren, lobten sich die Gäste gegenseitig
  • Dabei gab sich vor allem ein Politiker äußerst Staatsmännisch

"Ist die deutsche Pandemiepolitik wirklich alternativlos?" Mit dieser aktuell breit diskutierten Frage beschäftigte sich am Sonntagabend eine top besetzte Politikerrunde bei "Anne Will". Die Sendung hätte dabei auch den Titel „Zwei und ein halber Koalitionspartner für Markus Söder“ tragen können, so harmonisch ging es über weite Strecken zu. Lesen Sie auch: Corona, Kanzlerkandidatur und mehr: CSU-Chef Markus Söder im Interivew

Natürlich ist weder Markus Söder Kanzlerkandidat der Union, noch haben der amtierende SPD-Vizekanzler Olaf Scholz, Grünen-Chefin Annalena Baerbock oder FDP-Mann Christian Lindner im ARD-Talk auch nur ein Wort über Deutschlands nächste Regierung verloren. Doch die anstehende Bundestagswahl scheint in den Köpfen der Parteigrößen bereits allgegenwärtig zu sein.

"Anne Will" - Das waren die Gäste:

  • Olaf Scholz (SPD): Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen
  • Markus Söder (CSU): Parteivorsitzender und Ministerpräsident von Bayern
  • Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen): Parteivorsitzende
  • Christian Lindner (FDP): Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender im Bundestag
  • Melanie Amann: Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadtbüros

So waren es lediglich Baerbock und die Journalistin und Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadtbüros, Melanie Amann, die zumindest zeitweise auf Angriff umschalteten und sich an einer Generalabrechnung mit dem Pandemie-Management der Regierung versuchten.

Anne Will (M.) diskutierte mit Christian Lindner (FDP),  Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) (v.l.), Olaf Scholz (SPD), Journalistin Melanie Amann (v.r.) und zugeschaltet Markus Söder (CSU) über die Corona-Politik.
Anne Will (M.) diskutierte mit Christian Lindner (FDP), Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) (v.l.), Olaf Scholz (SPD), Journalistin Melanie Amann (v.r.) und zugeschaltet Markus Söder (CSU) über die Corona-Politik. © NDR/Wolfgang Borrs

Das reichte aber nicht, um der Diskussion die Dynamik zu verleihen, die sie nach der Papierform der Teilnehmer hätte haben können. Und Moderatorin Anne Will erwischte nicht ihren besten Tag: Viele ihrer provokanten Fragen gingen ins Leere oder wirkten angesichts der unerwarteten Harmonie des Parteien-Quartetts unangemessen polemisch, wenn sie etwa wissen wollte: "Werden Grundrechte im Stil eines Gnadenakts gewährt?"

Corona: "Anne Will"-Einspieler zur Inzidenz: „35 ist die neue 50“

Nein, krawallig wollte es an diesem Abend einfach nicht zugehen, obwohl doch die Politiker sich im Tagesgeschäft aufgrund der unterschiedlichen Haltungen zu Lockdown und Perspektivplan unversöhnlicher positionieren.

Bei "Anne Will" sollte nun der seit der jüngsten Ministerpräsidenten-Konferenz mit dem Kanzleramt geltende neue Inzidenzwert 35 als Aufreger herhalten, doch die Mathematik der Pandemie-Bekämpfung erschien offenbar selbst der Moderatorin als so kompliziert, dass sie diese anhand eines Einspielfilms verdeutlichen musste, mit dem Fazit: „35 ist die neue 50“.

Diesen Exkurs in die Kleinteiligkeit der neuen Verordnungen konterte der aus München zugeschaltete Markus Söder staatsmännisch aus. Es brauche eben einen "Mutations-Puffer".

Corona: Hoch ansteckende Mutante ist die große Unbekannte

Die neuen, hoch ansteckenden Virusvarianten sind die große Unbekannte in der Corona-Rechnung der Politiker, und vor allem das schien unter den Kontrahenten konsensfähig.

"Spiegel"-Redakteurin Amann kritisierte deshalb auch weniger die Maßnahmen als die mangelnde Vermittlung der veränderten Rahmenbedingungen für ein Wiederhochfahren des öffentlichen Lebens: "Man hat eine neue Zahl eingefügt, ohne das zu erklären. Hier wurden Chancen verschenkt."

Lockdown-Skeptiker Christian Lindner schob nach: "Für die immer gleiche Politik werden immer neue Argumente gesucht." Und Annalena Baerbock bemängelte eine Politik, in der "immer nur auf Sicht gefahren wird".

"Anne Will": Grünen-Chefin Baerbock fordert "Kinderrettungsfonds"

Olaf Scholz, der in der Vergangenheit der Impfstoff-Beschaffung der EU ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hatte, rückte die Pandemie-Maßnahmen in ein positives Licht: "Es gibt viele Erfolge, wir werden bald unter einen Inzidenzwert von 50 kommen." Lesen Sie dazu: Olaf Scholz: Ein Kanzlerkandidat mit Gedächtnislücken

Der Finanzminister im Kabinett Merkel ist nebenbei ja auch Kanzlerkandidat seiner derzeit allerdings in Umfragen weit abgeschlagenen Partei. Sein Auftritt bei "Anne Will" war erkennbar nicht darauf angelegt, vorhandene Dissonanzen mit dem Koalitionspartner zu vertiefen. Es sei "richtig", bei Lockerungen "Stück für Stück vorzugehen", sagte Scholz, und weiter: "Das ist doch eine gut abgewogene Politik." Vielleicht geht da ja noch was mit einer Fortsetzung der Großen Koalition.

So war es Annalena Baerbock, die immerhin zu einem Rundumschlag ausholte und staatliches Versagen anprangerte. Sie vermisse eine Strategie gegen die Not der Jüngsten in der Gesellschaft: "Die Kinder geraten komplett unter die Räder." Lesen Sie auch: Grüne Kanzlerin? Baerbock holt in Umfragen auf

Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) fordert bei
Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) fordert bei "Anne Will" einen "Kinderrettungsfonds". © NDR/Wolfgang Borrs

Die Grünen-Chefin forderte einen "Kinderrettungsfonds", eine "Bazooka wie in der Wirtschaft" sowie massenhaft Schnelltests zur Selbstanwendung in Schulen. "Jetzt braucht es Pragmatismus", sagte Baerbock und schlug den Anwesenden vor, sich "gleich hier" auf einen "fraktionsübergreifenden Antrag" zu einigen, der schon in dieser Woche ins Parlament eingebracht werden sollte.

Eine Initiative, die Lindner sofort für die eigene Partei reklamierte: "Solche Anträge haben wir doch schon formuliert."

Söder warnt vor verfrühtem Lockdown-Ende: "Ich will das nicht verstolpern"

Für Moderatorin Anne Will müssen es frustrierende Minuten gewesen sein. Der Konfliktfunke wollte einfach nicht überspringen. Ganz im Gegenteil: Als Söder den immerhin verhalten kritischen Geistern Baerbock und Lindner attestierte, er schätze sie als "großartige und engagierte Bundespolitiker", zauberte er beiden gleichzeitig ein Lächeln ins Gesicht.

Der CSU-Chef mahnte zur Geduld: "Wir werden immer wieder in die Falle tappen, wenn Abstandsgebote und Mobilitätsregeln zu früh gelockert werden. Das haben wir zweimal erlebt, ein drittes Mal möchte ich das nicht erleben. Ich will das nicht verstolpern."

Für die Kanzlerin gab es ein Extralob. Er sei "froh", so Söder, "dass Merkel unser Land in dieser schwierigen Zeit führt".

Journalistin bei "Anne Will": Corona-Krisenmanagement ist "ein Skandal"

Am Ende stand die "Spiegel"-Journalistin mit ihrer Wertung, dass das Krisenmanagement der Regierenden "ein Skandal" sei, dass Verantwortung "verschwimme", immer die anderen zuständig seien und eine zentrale Entscheidungs-Institution fehle, allein auf weiter Flur. Die anwesenden Politiker bekrittelten hier und dort etwas, brachten ein paar Ideen ein und waren sich in erstaunlich vielen Punkten einig.

35 ist das neue 50 – na und? Dafür gab es Redezeit zur besten Sendezeit. Das Dilemma des ARD-Talks am Sonntag brachte Olaf Scholz auf den Punkt: "Ich habe lauter Monologe gehört, wir sollten doch mehr miteinander reden." Klappt bestimmt ein anderes Mal, der Wahlkampf fängt ja gerade erst an.

Anne Will: So liefen die vergangenen Sendungen

Sehen Sie hier die ganze Folge von "Anne Will".