Berlin. ARD-Chef Ulrich Wilhelm spricht über ein europäisches Youtube, höhere Rundfunkgebühren und die umstrittene interne Sprachanleitung.

Was den Europäern vor einem halben Jahrhundert in der Luftfahrtindustrie mit Airbus gelang, soll sich jetzt mit einem digitalen Großprojekt wiederholen. ARD-Chef Ulrich Wilhelm fordert eine „staatliche Initialzündung“, um eine europäische digitale In­frastruktur als Gegenmodell zu Facebook und Google zu schaffen. Im Interview mit unserer Redaktion erläutert er die politische Dimension des Vorhabens.

Ein internes Dokument mit dem Titel ‚Framing Manual’ – eine Art Argumentationshilfe – hat Ihnen viel Kritik eingebracht. Das Papier erweckt den Anschein, dass die ARD ihren Mitarbeitern Sprach- und Handlungsanweisungen gibt, um die Arbeit des öffentlich-rechtlichen Senders in ein günstiges Licht zu rücken. Ärgern Sie sich über den Vorgang, Herr Wilhelm?

Ulrich Wilhelm: Mir gefällt die Verhärtung auf beiden Seiten nicht. Es macht keinen Sinn, sich Kampfbegriffe, zu denen auch „Staatsfunk“ und „Zwangsgebühr“ zählen, um die Ohren zu hauen. Umgekehrt werden Sie von mir nie Formulierungen wie „Profitmedien“ hören.

Mir geht es um einen respektvollen Umgang. Wir haben ein duales System mit leistungsfähigen privaten Medien und einem leistungsfähigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir sollten die Besonderheiten der jeweiligen Finanzierungsform achten und die gemeinsamen Anliegen in den Mittelpunkt stellen. Ich rate zu mehr Gemeinsamkeit.

In dem Papier wird empfohlen, die Bürger mit moralischen Argumenten davon zu überzeugen, sich „hinter die Idee eines gemeinsamen, freien Rundfunks ARD zu stellen“. Kritiker wittern einen Versuch der Gehirnwäsche...

Wilhelm: Das ist doch Unsinn. Es ist ein Papier zur Verwendung in einzelnen Workshops zum Umgang mit Sprache – nicht mehr.

Für das Gutachten hat die ARD 120.000 Euro ausgegeben. Würden Sie sagen, das war gut angelegtes Geld?

Wilhelm: Das hat der Mitteldeutsche Rundfunk bereits transparent und umfassend erläutert. Die von Ihnen genannte Gesamtsumme umfasste - über das Papier hinaus – Analysen, zahlreiche Workshops und Beratungsleistungen über mehrere Monate für den MDR, der damals den ARD-Vorsitz innehatte und die Unterlage in Auftrag gab.

Eines Ihrer größten Projekte als ARD-Vorsitzender ist eine europäische digitale Plattform. Was genau schwebt Ihnen vor: eine Super-Mediathek?

Wilhelm: Nein, eine Super-Mediathek wäre mir zu kurz gegriffen. Das Thema ist wesentlich breiter und betrifft nicht nur den Rundfunk, sondern die gesamte Gesellschaft. Denn wir erleben, dass wir in Europa in hohem Maße abhängig sind und die Kontrolle über den digitalen öffentlichen Raum komplett an wenige US-Unternehmen abgegeben haben.

Jeder, der heute eine große Zielgruppe im Netz erreichen will, kommt um Google, Facebook und Youtube nicht herum. Bei allem Respekt vor dem technischen und unternehmerischen Können dieser Firmen – wir brauchen eine europäische Alternative zu diesem bestehenden Monopol. Eine eigene Infrastruktur für Plattformen in Europa bietet viele Vorteile für die unterschiedlichsten Anbieter von Inhalten.

Dazu zählen für mich die öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunksender, Verlage, Institutionen aus Kultur und Wissenschaft und viele andere. Am besten wäre eine Initiative mehrerer europäischer Länder.

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    An welche Länder denken Sie?

    Wilhelm: Der entscheidende Anstoß sollte von Deutschland und Frankreich kommen. Mit ihrer Partnerschaft, ihrem technologischen Können und ihrer wirtschaftlichen Kraft sind sie dazu in der Lage. Ich freue mich sehr, dass Deutschland und Frankreich zu Jahresbeginn ein solches Ziel in ihren Aachener Vertrag aufgenommen haben. Ich bin mir sicher, dass sich weitere Staaten anschließen würden: Spanien etwa, auch Großbritannien – ungeachtet des Brexits.

    Haben Sie den Traum von Franz Josef Strauß, der dem europäischen Luftfahrtkonzern Airbus den Weg bereitet hat – nur digital?

    Wilhelm: Man kann das schon vergleichen. Airbus als Konkurrenz zu Boeing wäre rein durch den Markt nie entstanden. Das bedurfte einer staatlichen Initialzündung – mit einer langen Anschubfinanzierung und mit Forschungsförderung. Gleiches gilt übrigens auch für das Silicon Valley selbst, das von vielfältiger staatlicher Förderung in den USA profitiert hat.

    Was wollen Sie mit dem Projekt erreichen?

    Wilhelm: Ich halte es für strategisch wichtig, dass Europa bei dieser entscheidenden Infrastruktur nicht vollkommen von den USA und China abhängt. Es geht um europä­ische Souveränität und Selbstbehauptung auch im digitalen Raum. Der politische Antrieb, dass Europa aus eigener Kraft seine Identität bewahren muss, zeichnet die Franzosen in besonderer Weise aus. Daher sind sie – wie bei der Luft-und Raumfahrtindustrie – der ideale Partner.

    Worauf wollen Sie hinaus?

    Wilhelm: Inhalte in der digitalen Welt werden vor allem durch Algorithmen sichtbar gemacht. Diese bestimmen maßgeblich, welche Informationen uns im Netz überhaupt erreichen, da diese auch nach Vorlieben und Interessen eines Nutzers vorsortiert werden – wie in Filterblasen. Das geschieht nicht neutral.

    Google, Youtube oder Facebook wollen Werbung möglichst treffsicher in den jeweiligen Zielgruppen platzieren. Und deshalb folgen ihre Algorithmen diesem konkreten Geschäftsmodell. So entsteht eine Struktur, die Gleichgesinnte verbindet und an Fanclubs im Sport erinnert.

    Das ist nicht unbedingt verwerflich.

    Wilhelm: Für die politische Debatte ist es allerdings ein gravierendes Problem, wenn mehr und mehr Gruppen entstehen, die in ihrer Filterblase bestärkt werden, mit anderen Argumenten weniger in Kontakt kommen – und so die Vielfalt des öffentlichen Raums reduziert wird. Dann wird unser Land nicht mehr den inneren Frieden und den für die demokratische Meinungsfindung so wichtigen Ausgleich finden.

    Sehen Sie in dieser Entwicklung eine Gefahr für die Demokratie?

    Wilhelm: Wenn wir sie nicht aktiv gestalten, kann sie zur Gefahr für die Demokratie werden – und für den Zusammenhalt der Menschen. Wir sehen auch in Deutschland, dass durch Freund-Feind-Denken und Polarisierung der Zusammenhalt schwächer wird. In unserer Demokratie kommt Konsens ja immer durch Rede und Gegenrede zustande.

    Dann können Kompromisse auch getragen werden. Doch wenn Menschen nur noch zur Kenntnis nehmen, was sie in ihrer eigenen Meinung bestärkt, und nicht mehr das ganze Bild sehen, dann schwindet das Gemeinsame. Und Polarisierung und Hass nehmen zu.

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      Die europäische Plattform wäre ganz anders?

      Wilhelm: Sie würde ein Gegengewicht setzen. Ein Unterschied wäre, dass die europäische Infrastruktur mit anderen – transparenten und öffentlich überprüfbaren – Algorithmen arbeitet, die in unseren europä­ischen Werten wurzeln. Offenheit, Qualität und Relevanz von Inhalten sind doch wichtiger für die politische Meinungsbildung als die bestmögliche Ausschöpfung von Werbezielgruppen.

      Sie werden auch wirtschaftliche Interessen haben.

      Wilhelm: Klassische Medienanbieter haben für die Verbreitung ihrer Inhalte – etwa aus Mediatheken – im Moment keine Alternative. Wir bewegen uns komplett im Ökosystem von Google, Facebook, Youtube und in einigen Jahren auch von chinesischen Anbietern wie Alibaba und WeChat. Wir überlassen nicht nur unsere wertvollen Inhalte, sondern auch noch unsere Nutzerdaten. Und die Verlage müssen zudem erleben, dass ein Großteil der Werbeeinnahmen bei den US-Plattformen landet.

      Daher plädiere ich dafür, dass Europa mit dem Gegenmodell eine Infrastruktur entwickelt – vergleichbar mit einem Straßen- oder Schienennetz. Und darauf könnten sich unterschiedlichste Produkte entfalten: kommerzielle und öffentlich finanzierte, private oder staatliche.

      Wer bestimmt, was veröffentlicht wird?

      Wilhelm: Diese digitale Infrastruktur für Europa müsste eine öffentliche Dienstleistung sein, die natürlich nicht so weit geht, dass der Staat die Inhalte festlegt. Aber der Gesetzgeber muss die Spielregeln bestimmen und Alternativen fördern. Das betrifft den Datenschutz genauso wie den Umgang mit geistigem Eigentum. Es muss auch geregelt sein, welche Inhalte nicht erlaubt wären – etwa rassistische Videos oder Verleumdungen – und an wen man sich wenden kann, wenn Regeln verletzt werden. Das ist vergleichbar mit dem Pressegesetz für die klassischen Medien.

      Was kostet das Projekt? Und woher soll das Geld kommen?

      Wilhelm: Es gibt viele Inhalte, die sowieso öffentlich finanziert sind – etwa von staatlichen Museen wie dem Louvre in Paris, von staatlichen Orchestern, Universitäten oder den Mediatheken von ARD und ZDF. Es gibt aber auch Anbieter, die für ihre digitalen Produkte eine zusätzliche Finanzierung brauchen. Und die müssen die Freiheit bekommen, sich über Abonnements, Werbung oder Stiftungsgelder zu refinanzieren. Diese Flexibilität der Geschäftsmodelle erlauben die US-Plattformen nicht.

      Wirkt sich Ihr Vorhaben auf die Rundfunkgebühren aus?

      Wilhelm: Mit Sicherheit nicht. Die Entwicklung des Rundfunkbeitrags hat mit der digitalen Infrastruktur-Idee nichts zu tun. Wie gesagt: Das ist kein Projekt des Rundfunks, sondern es geht die gesamte Gesellschaft gleichermaßen an. Deshalb kann es nur durch die Politik angestoßen werden. Und wie immer bei Infrastruktur-Vorhaben muss ein gewisser Teil öffentlich finanziert sein. Das ist gut investiertes Geld. Die Kosten wären bedeutend höher, wenn unser Land instabil würde.

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      Von Kai-Hinrich Renner und Diana Zinkler

      Zurzeit werden Rundfunkgebühren in Höhe von 17,50 Euro pro Haushalt und Monat fällig. Für welchen Betrag sind Sie?

      Wilhelm: Wenn wir den heutigen Leistungsstand mit qualitätsvollen Programmen in den Jahren 2021 bis 2024 halten wollen, brauchen wir dann einen Ausgleich der Teuerung – orientiert am Verbraucherpreisindex.

      Heißt konkret?

      Wilhelm: Das entscheiden die Bundesländer im kommenden Jahr auf der Basis einer Empfehlung der KEF, der unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten.

      Der Anstieg könnte gedämpft werden, wenn ARD und ZDF enger zusammenarbeiten – etwa bei der Übertragung großer Sportveranstaltungen.

      Wilhelm: Das tun wir schon längst. Zuletzt auch wieder bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang oder bei der Fußball-WM in Russland, wo wir jeweils ein gemeinsames nationales Sendezentrum in Leipzig beziehungsweise Baden-Baden hatten. Auch den Großteil des Technik- und Produktionspersonals haben ARD und ZDF gemeinsam genutzt. Diese enge Kooperation bei Sport-Großereignissen werden wir künftig noch ausbauen.