Berlin. Nach Zweifeln an ihrem Lebenslauf muss die Politikerin wieder unangenehme Fragen abwehren. Grüne sprechen von einer Schmutzkampagne.

Es ist erst einige Tage her, da stellte die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ihr Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" in Berlin vor, auf einer Bühne im Freien, wenige Hundert Meter entfernt vom Kanzleramt. Nun erhebt der Wiener Kommunikationswissenschaftler Stefan Weber Vorwürfe gegen die Grünen-Spitzenpolitiker: In ihrem Buch sind laut Weber einzelne Stellen wortgleich oder nur ein wenig abgewandelt aus anderen Quellen übernommen worden.

Insgesamt geht es um wenige Stellen, teilweise nur einzelne Sätze in dem 240 Seiten langen Buch. In einer am Mittwoch an Journalisten versendeten E-Mail nannte Weber vier weitere Textstellen, die er "Funde" nennt. Er komme bislang auf 14 "Fragmente".

Grüne sprechen von "Rufmord" und schalten Medienanwalt ein

Bereits in den vergangenen Wochen war Annalena Baerbock in die Kritik geraten – es ging um unpräzise und teilweise geschönte Passagen in ihrem Lebenslauf. Baerbock musste ihre Vita und den Internetauftritt korrigieren. Nun droht der Grünen-Spitzenkandidatin vor der Wahl im September eine neue Debatte um ihre Glaubwürdigkeit.

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Die Grünen holen nun zum Gegenschlag aus. Um die "absurde Kampagne" gegen ihre Kanzlerkandidatin abzuwehren, hat die Partei den Medienanwalt Christian Schertz eingeschaltet. "Ich kann nicht im Ansatz eine Urheberrechtsverletzung erkennen, da es sich bei den wenigen in Bezug genommenen Passagen um nichts anderes handelt, als um die Wiedergabe allgemein bekannter Fakten sowie politischer Ansichten", teilte Schertz mit.

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Wortgleiche Passagen, auffällige Stellen – aber "noch nicht gravierend"

Eine der Passagen, die Webers Software auf Seite 174 des Baerbock-Buchs gefunden hat, lautet: "Insgesamt zehn Staaten traten an diesem Tag der Europäischen Union bei: die baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, außerdem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die frühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien sowie die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern. Die EU wuchs von 15 auf 25 Mitglieder – und begrüßte damit rund 75 Millionen neue Unionsbürger*innen."

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Ein fast wortgleicher Absatz findet sich in einer Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung. Dort heißt es in einem Artikel aus 2019: "Insgesamt zehn Staaten traten an diesem Tag der Europäischen Union bei: die baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, außerdem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die frühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien sowie die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern. Die EU wuchs von 15 auf 25 Mitglieder – und begrüßte damit rund 75 Millionen neue Unionsbürgerinnen und –bürger. Davon lebte etwa die Hälfte in Polen."

Eine andere ungewöhnliche Formulierung aus einem Artikel in "Internationale Politik" findet sich beispielsweise auf Seite 16 des Buchs. Die Grünen-Chefin schreibt dort: "Wer immer nur von der Gegenwart aus denkt, verharrt in der Kurzfristigkeit und verliert an strategischer Tiefe." Die Forscherin Florence Gaub, die sich mit sicherheitspolitischen Fragen beschäftigt, schreibt in ihrem Artikel: "Wer ständig in Krisen denkt, verharrt in der Kurzfristigkeit und verliert an strategischer Tiefe."

Allerdings setzt ein Plagiat im Sinne des Urheberrechts voraus, dass geistiges Eigentum gestohlen wurde. Die Passagen oder Sätze, die Weber kritisiert, wirkt es so, als habe Baerbock vor allem Sachinformationen übernommen.

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Baerbocks Buch: Nicht immer sind die Vorwürfe eindeutig

Weber analysiert seit mehr als zehn Jahren Veröffentlichungen mit Hilfe einer Software. Er hat bereits die Arbeiten mehrerer Prominenter untersucht. Die Computertechnik findet wortgleiche oder ähnliche Passagen eines Buches oder einer wissenschaftlichen Arbeit und gleicht sie mit öffentlich verfügbaren Texten im Netz ab.

Aus Baerbocks Buch zitiert Weber weitere Passagen, darunter einen Absatz zum Klimawandel, der in vielen Teilen gleichlautet wie ein Artikel aus dem Magazin "Internationale Politik". Zudem führt der Wissenschaftler der Gruppe "Plagiatsgutachten" eine kurze Stelle auf, die hohe Ähnlichkeit zu einer Passage aus einem Artikel des "Spiegel" aufweist.

Baerbock hält bei der Vorstellungsveranstaltung ihr Buch in den Händen.
Baerbock hält bei der Vorstellungsveranstaltung ihr Buch in den Händen. © dpa | Christoph Soeder

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Nicht immer ist der Vorwurf des Plagiats eindeutig. In einem anderen kurzen Abschnitt sind Ähnlichkeiten zu einem Wikipedia-Eintrag zu erkennen, wortwörtlich ist der Text nicht übernommen. In einem anderen Absatz zum Klimawandel ist in Baerbocks Buch ein Datum korrigiert – anders als im mutmaßlich kopierten "Original".

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Weber: "Der Fall ist derzeit noch nicht gravierend, aber auch nicht mehr harmlos"

Plagiatsforscher Weber gibt im Gespräch mit unserer Redaktion an, er habe sechs weitere Stellen gefunden, die aus Online-Portalen von Tageszeitungen abgeschrieben seien. "Die bisherigen Funde sind noch kein Grund, das Buch vom Markt zu nehmen. Doch die Stellen sollte der Verlag in einer neuen Auflage transparent mit Quellen markieren", sagt Weber.

"Der Fall ist derzeit noch nicht gravierend, aber auch nicht mehr harmlos", so der Plagiatsjäger gegenüber unserer Redaktion. Weber sagte der Deutschen Presse-Agentur, er habe das Buch auf eigene Rechnung untersucht, es handle sich nicht um eine bezahlte Auftragsarbeit. "Ich habe mich in das Thema Baerbock verbissen, weil da einiges zusammen kommt."

Das Buch erschien im Ullstein-Verlag. Zwei Autoren aus dem Wahlkampfteam sollen laut Medienberichten an dem Buch mitgeschrieben haben. Baerbock schildert an vielen Stellen persönliche Begegnungen und Reisen, etwa in ein Flüchtlingscamp in den Nordirak.

Zugleich gilt: Wie in Sachbüchern nicht unüblich, sind in dem Werk generell keine Quellen genannt. Anders als eine Dissertation, eine wissenschaftliche Arbeit, in der dies verlangt wird.

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Grüne sind in den Umfragen wieder gefallen

Die Grünen-Parteizentrale kritisiert Plagiatsforscher Weber für die nun erhobenen Vorwürfe gegen Baerbock scharf. Auf Nachfrage unserer Redaktion teilt ein Sprecher mit: "Das ist der Versuch von Rufmord. Wir weisen den Vorwurf einer Urheberrechtsverletzung entschieden zurück. Der Blogger, der bereits falsche Behauptungen zu Frau Baerbocks Abschluss verbreitet hatte, versucht erneut, bösartig ihren Ruf zu beschädigen." Bei den beschriebenen Passagen handelt es sich laut Grünen-Sprecher um "allgemein zugängliche Fakten oder bekannte Grüne Positionen".

Tatsächlich veröffentlichte Forscher Weber auf seinem Blog zuletzt eigentlich nur kritische Artikel zur Debatte über Baerbocks verzerrten Lebenslauf. Teilweise sind die Blogeinträge Webers wenig wissenschaftlich und eher polemisch betitelt: "Die fabulierte Welt der Annalena" oder "Die sakrosankte Masterthesis der Bundeskanzlerin in spe".

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Kritik an den Plagiatsvorwürfen durch Wissenschaftler

Der Wissenschaftler Andreas Fischer-Lescano von der Universität Bremen übt ebenfalls deutliche Kritik an den Plagiatsvorwürfen durch den Kommunikationswissenschaftler Weber. "Die bislang vorgelegten Passagen sind lächerlich", sagte er unserer Redaktion. "Das ist keine seriöse Analyse." Den Vorwurf des Plagiats sieht Fischer-Lescano "keinesfalls" gegeben.

2007 hatte Fischer-Lescano die Plagiate in der Doktorarbeit von CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg recherchiert hatte. Am Ende waren auf Hunderten Seiten der wissenschaftlichen Arbeit Quellen von wörtlichen Zitaten nicht angegeben.

In den Umfragen sind die Grünen und auch Spitzenkandidatin Baerbock zuletzt wieder hinter die Union gefallen. Ein Grund könnten auch die Debatten um die Kanzlerkandidatin sein.

Plagiatsblogger will nun wissenschaftliche Arbeit von Baerbock prüfen

Der Verlag hält derweil zur Autorin Baerbock. "Das Manuskript von Annalena Baerbocks Buch ist im Verlag sorgfältig lektoriert worden", teilt eine Sprecherin mit. "Die Aufzählung von allgemein zugänglichen Fakten ist ebenso wenig urheberrechtlich geschützt wie einfache Formulierungen, mit denen solche Fakten transportiert werden. Wir können keine Urheberrechtsverletzung erkennen." Die Quellen zitierter Passagen seien im Text angegeben worden.

Gegenüber der "Neuen Zürcher Zeitung" kündigte Stefan Weber an, dass er als Nächstes die Masterarbeit von Baerbock prüfen werde. Er habe bereits bei der London School of Economics um Einsicht gebeten.

(cu/bml/fmg)