Berlin. Die neue Familienministerin Anne Spiegel über die Corona-Lage und ihre Ziele. So will sie Familien und die Gleichberechtigung stärken.

Es sind ihre ersten Tage als nominierte Familienministerin in Berlin und unserer Redaktion gibt sie ihr erstes großes Interview. Anne Spiegel, bisher stellvertretende Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz, gewährt auch Einblick in ihr eigenes Familienleben.
Sie sind die große Überraschung im Ampel-Kabinett. Wie ist es dazu gekommen, dass Sie Familienministerin werden?

Anne Spiegel: Es kam auch für mich ziemlich überraschend, ich habe tatsächlich nicht damit gerechnet. Umso mehr muss ich erst mal schauen, wie ich mich sortiere hier in Berlin. Ich fühle mich sehr geehrt und freue mich auf diese wahnsinnig spannende, herausfordernde Aufgabe.

Ziehen Sie mit Ihrer Familie von Speyer nach Berlin?

Spiegel: Wir halten als Familie zusammen. Nachdem klar war, wohin die Reise geht, habe ich erst mit meinem Mann und dann mit den Kindern gesprochen. Der Familienrat hat sich eindeutig dafür ausgesprochen, dass wir alle zusammen nach Berlin ziehen.

Wie sieht die Arbeitsteilung im Hause Spiegel aus?

Spiegel: Ich habe meine ersten drei Kinder als Landtagsabgeordnete bekommen und mein viertes als Ministerin in Rheinland-Pfalz. Von daher sind wir das als Familie gewohnt, dass mein Mann zu Hause ist und sich um die Kinder kümmert. Die Kinder kennen es gar nicht anders. Das ist das System, das wir für uns gewählt haben. Und das macht uns auch alle ausgesprochen glücklich und zufrieden.

Wie schwierig ist es in Deutschland, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen?

Spiegel: Es ist leider nach wie vor eine große Herausforderung, die mit zunehmender Kinderzahl auch nicht unbedingt kleiner wird. Ich will die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Das ist eines der Themen, die mir sehr am Herzen liegen. Wichtig ist, dass man als Familie wirklich Zeit miteinander verbringen kann.

Anne Spiegel will als neue Familienministerin Frauen stärken.
Anne Spiegel will als neue Familienministerin Frauen stärken. © Imago Images

Was genau wollen Sie verbessern? In Deutschland fehlen immer noch mehr als 300.000 Kita-Plätze für unter Dreijährige.

Spiegel: Es sind schon einige gute Schritte gegangen worden. Das Gute-Kita-Gesetz zum Beispiel, mit dem erhebliche Mittel bereitgestellt worden sind. Insgesamt sollte es so sein, dass eine Familie in Deutschland – egal wo sie wohnt – eine qualitativ hochwertige Betreuungsmöglichkeit hat für Kinder. Und zwar für Kinder jeden Alters.

Die Ampel-Parteien haben ein Investitionsprogramm für Kitas in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wie viel Geld soll wie viele Kita-Plätze bringen?

Spiegel: Es ist mir wichtig, dass wir die Betreuungssituation für Familien verbessern. Zum Umfang kann ich noch nichts sagen, noch bin ich nur nominiert als Familienministerin und warte mit großer Spannung die Urabstimmung der Grünen ab.

Zweifeln Sie an der Zustimmung?

Spiegel: Wir haben einen großartigen Koalitionsvertrag ausgehandelt mit vielen wichtigen Themen und Erfolgen. Ich hoffe, die Grünen-Mitglieder sehen das bei der jetzt anstehenden Urabstimmung genauso.

Über das Personaltableau – vor allem die Nominierung von Super-Realo Cem Özdemir – ist bei den Grünen neuer Flügelstreit ausgebrochen. Wie sehr belastet das den Start?

Spiegel: Das war kein einfacher Tag. Die Diskussion im Parteirat geht mir noch nach. Es ist kein einfacher Prozess, wenn man viele kluge, geeignete Köpfe und gleichzeitig nur wenige Ämter zu vergeben hat. Aber ich schaue jetzt nach vorne. Diese Regierung hat wahnsinnig viel zu tun.

Wie sieht Ihr 100-Tage-Programm aus?

Spiegel: Eines der ganz zentralen Projekte der neuen Regierung ist die Kindergrundsicherung. Wir machen eine Kampfansage an Kinderarmut in Deutschland. Das werde ich sofort angehen, allerdings ist das ein so großer Wurf, dass die Kindergrundsicherung nicht in den ersten 100 Tagen das Licht der Welt erblicken wird. Für den Start ist wichtig, dass 2,7 Millionen Kinder in Deutschland einen Sofortzuschlag bekommen, der ein deutliches Plus im Geldbeutel bringt. Das ist gerade in Corona-Zeiten ein wichtiger Schritt, um etwas ganz konkret für Kinder und Jugendliche zu tun.

Welche Priorität hat für Sie das Vorhaben, im Strafgesetzbuch das Werbeverbot für Abtreibungen zu streichen?

Spiegel: Paragraf 219a ist für mich in einer Reihe von frauen- und gleichstellungspolitischen Dingen zu sehen, die ich relativ schnell anpacken möchte. Genauso wichtig finde ich, einen Gleichstellungscheck zu installieren: Jede Vorlage, die ins Kabinett kommt, muss dahingehend überprüft werden, ob sie gleichstellungs- und frauenpolitischen Fragen auch Rechnung trägt. Das ist ein wichtiges Instrument, das wir schnell brauchen.

Das Personaltableau der FDP – drei Männer, eine Frau – würde diesen Gleichstellungscheck nicht überstehen.

Spiegel: Für die Grünen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Parität auf sämtlichen politischen Ebenen gilt. Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz hat das für das ganze Bundeskabinett angekündigt. Im Jahr 2021 ist das ein überfälliges Signal.

Noch ist offen, wer das wichtige Amt des Gesundheitsministers bekommt. Darf Parität ein Argument gegen einen kompetenten Mann wie Karl Lauterbach sein?

Spiegel: Jede Partei muss für sich ausloten, wen sie nominiert.

Sie erheben also keine Einwände, wenn es Lauterbach wird.

Spiegel: Ich verfolge mit Spannung, was sich bei der SPD tut. Und ich freue mich, wenn ich bald höre, mit wem ich in der nächsten Bundesregierung zusammenarbeiten kann.

Die Corona-Pandemie ist außer Kontrolle geraten – auch Schulen und Kitas erweisen sich als Infektionstreiber. Was muss jetzt geschehen?

Spiegel: Die Corona-Lage ist sehr ernst. Was wir bisher auf den Weg gebracht haben, reicht nicht, um die vierte Welle zu brechen. Wir brauchen dringend mehr Kontaktbeschränkungen in Deutschland. Es ist auch sinnvoll, über regionale Lockdowns nachzudenken. Das Gesundheitssystem darf nicht an seine Grenzen kommen. Schon jetzt werden Patientinnen und Patienten ausgeflogen, weil die Intensivstationen überfüllt sind. Wenn die Zahlen drastisch hochgehen, brauchen wir auch drastische Maßnahmen, damit sie wieder runtergehen. Mit milden Maßnahmen werden wir nicht weiterkommen. Wir dürfen nichts kategorisch ausschließen – allein wegen der neuen besorgniserregenden Virusvariante.

Also können sich Eltern nicht darauf verlassen, dass Schulen und Kitas offen bleiben?

Spiegel: Wir müssen alles daran setzen, dass die Bildungseinrichtungen so lange wie möglich offen bleiben. Es geht nicht nur um Lernrückstände. Schulen und Kitas sind ein wichtiges System, das den Kindern auch Halt, Geborgenheit und Sicherheit gibt in dieser schwierigen Zeit. Viele Kinder leiden psychisch unter der Pandemie. Wir sollten jetzt die Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche verstärken. Sinnvoll wäre, das Maskentragen auszuweiten und mehr zu testen. Ich wünsche mir dringend, dass wir nicht als Erstes über die Schließung von Schulen und Kitas sprechen, sondern als Allerletztes.

Das Bundesverfassungsgericht hat Schulschließungen ausdrücklich erlaubt.

Spiegel: Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass es legitim ist, Maßnahmen bis hin zu Ausgangssperren zu beschließen, um das Infektionsgeschehen zu verringern. Zugleich haben die Richter das Recht auf Bildung hervorgehoben. Dem kann ich nur beipflichten. Wir sollten Kitas und Schulen so lange wie möglich offen halten.

Können Sie sich neue Kontaktbeschränkungen für Kinder vorstellen?

Spiegel: Wenn Kontaktbeschränkungen beschlossen werden, haben Kinder anders zu zählen als Erwachsene. Es muss auch in einer Pandemie möglich sein, dass Kinder sich mit Gleichaltrigen treffen. Es ist auch nicht verhältnismäßig, Spielplätze zu schließen. Bei Kindern und Jugendlichen geht es nicht nur um Kita und Schule, sondern um den gesamten Lebensalltag.

Raten Sie Eltern, auch ihre jüngeren Kinder impfen zu lassen?

Spiegel: Ich persönlich warte die Empfehlung der Ständigen Impfkommission ab.

In anderen Ländern werden Fünf- bis Zwölfjährige längst geimpft. Stören Sie sich gar nicht an den zögerlichen Empfehlungen der Stiko?

Spiegel: In der Pandemie ist der Faktor Zeit von Bedeutung. Aber die Stiko ist eine sehr wichtige Institution von Fachleuten, deren Wort für mich Gewicht hat.

Wie denken Sie über eine allgemeine Impfpflicht?

Spiegel: Ich bin dafür, erst alle anderen Mittel auszuschöpfen, um die Menschen zum Impfen zu bewegen. Aber wir sind in dieser Pandemie an einem Punkt angelangt, an dem wir ernsthaft über eine Impfpflicht nachdenken sollten. Die Situation in den Intensivstationen ist mehr als besorgniserregend.