Madrid. Tausende Menschen fliehen aus Westafrika über die Kanarischen Inseln. Vor den beliebten Urlaubsinseln sterben Hunderte Flüchtlinge.

Erschöpft liegen und sitzen die Menschen auf der Kaimauer im Hafen von Los Cristianos im Süden der spanischen Urlaubsinsel Teneriffa. Helfer des Roten Kreuzes versorgen die gerade angekommenen afrikanischen Migranten mit Wasserflaschen. Nur wenige hundert Meter entfernt sonnen sich Tausende von Touristen am Strand. Los Cristianos ist eine der wichtigsten Urlaubshochburgen Teneriffas, der größten Insel der vor Westafrika im Atlantik liegenden Kanaren.

Im Hintergrund sieht man an der Kaimauer vertäut das orange Rettungsschiff, das die Flüchtlinge vor der Küste Teneriffas geborgen hat. Sie waren tagelang in einem alten Holzkahn unterwegs, der vermutlich eine Woche zuvor von der Küste Senegals abgelegt hatte, die rund 1500 Kilometer entfernt liegt.

Der Seeweg über den Atlantik ist lang, die Sonne brennt heiß vom Himmel. Die Migranten kauern meist eng zusammengepfercht auf den wackeligen Booten. Es gibt keinen Platz, um sich zu bewegen oder hinzulegen. Einen der Bootsinsassen, allesamt junge Männer aus den Armutsstaaten unterhalb der Sahara, konnten die spanischen Retter nur noch tot aus dem Kahn bergen. Er starb an Erschöpfung. Vier weitere Menschen mussten im Krankenhaus versorgt werden.

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Flucht nach Europa: Sommer ist Hochsaison der Menschenmafia

Im Sommer, wenn das Meer ruhiger ist, haben die Menschenschmuggler Hochsaison. „Jetzt kommen ein bis zwei Schiffe am Tag an“, berichtet ein Sprecher des Roten Kreuzes. Innerhalb von 30 Tagen sind 3000 Flüchtlinge und Migranten auf den Kanarischen Inseln registriert worden.

Wenn die Boote in den westafrikanischen Staaten Mauretanien, Senegal oder Gambia abfahren, steuern sie meist die südlich gelegenen Inseln Teneriffa oder Gran Canaria an. Eine zweite Seeroute führt von Marokko oder von der marokkanisch besetzten Westsahara zu den gegenüberliegenden Inseln Lanzarote oder Fuerteventura, die nur eine Tagesreise entfernt sind.

Aber auch die Fahrt von der marokkanischen Küste ist nicht ungefährlich. Die spanische Hilfsorganisation Caminando Fronteras (Grenzen überschreiten) berichtete gerade von einer neuen tödlichen Tragödie, die sich zwischen den Kanaren und Marokko abspielte.

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Flüchtlinge: Acht Horrortage im Schlauchboot

Demzufolge trieb ein Flüchtlingsboot, das mit 55 Menschen an Bord von Marokko aus in See gestochen war, mehr als eine Woche manövrierunfähig und ohne Wasser oder Lebensmittel im Atlantik. Kurz nach der Abfahrt hatte der Motor versagt. Die Migranten hätten zwar einen Notruf abgesetzt, aber die marokkanische Küstenwacht konnte das Boot nicht finden.

Drei Männer sitzen an einer ungewöhnlichen und gefährlichen Stelle eines Öltankers, der in einem Hafen der Kanarischen Inseln vor Anker liegt.
Drei Männer sitzen an einer ungewöhnlichen und gefährlichen Stelle eines Öltankers, der in einem Hafen der Kanarischen Inseln vor Anker liegt. © Salvamento Marítimo | Salvamento Marítimo

„Sie verbrachten acht Horrortage im Schlauchboot“, berichtet Helena Maleno, Sprecherin von Caminando Fronteras. Als das Boot schließlich wieder von der Strömung an die marokkanische Küste gespült worden sei, hätten nur noch vier Bootsinsassen gelebt. 51 Migranten, darunter elf Frauen und drei Kinder, seien auf dieser Odyssee gestorben.

Caminando Fronteras ist eine bekannte Anlaufstelle für jene Menschen, die die Flucht auf die Kanarischen Inseln wagen. Immer wieder gehen bei der Aktivistengruppe Hilferufe von Migranten ein, die sich in Seenot befinden. Die Organisation informiert dann die Behörden.

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Hilfsorganisation: Seit Jahresbeginn 778 Tote vor den Kanarischen Inseln

Derzeit meldet Caminando Fronteras nahezu jede Woche ein neues Unglück. Kurz vor dem Todesdrama mit 51 Toten hatten die Aktivisten darauf aufmerksam gemacht, dass sich ein anderes Flüchtlingsschiff vor Marokko in Seenot befand. 37 Menschen sollen nach dem Auseinanderbrechen des Bootes im Meer ertrunken sein – nur 24 konnten gerettet werden.

Wie die private Helfergruppe berichtet, werden derzeit mindestens fünf weitere Migrantenschiffe auf der Atlantikroute vermisst. Es müsse davon ausgegangen werden, dass deren insgesamt mehr als 260 Insassen ertrunken seien. Wenn dies zutrifft, sind allein in den letzten Wochen 350 Menschen vor den Kanaren umgekommen; seit Jahresbeginn soll es mindestens 778 Todesopfer gegeben haben.

Migranten schwimmen neben ihrem umgestürzten Holzboot im Mittelmeer. Vor den Kanaren spielen sich ähnliche Szenen ab (Archivbild).
Migranten schwimmen neben ihrem umgestürzten Holzboot im Mittelmeer. Vor den Kanaren spielen sich ähnliche Szenen ab (Archivbild). © Francisco Seco/AP/dpa

Die Aktivisten zählten im vergangenen Jahr insgesamt 1800 tote und vermisste Migranten auf der Kanarenroute. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR, die nur offiziell bestätigte Fälle in die Statistik aufnimmt, verzeichnete in 2023 knapp 600 Todesfälle zwischen Afrika und den Kanaren.

Spanien: Die Migrationsrouten verschieben sich

Nach Angaben des spanischen Innenministeriums geht die Zahl der Bootsmigranten, die auf den Kanaren wie auch an Spaniens Festlandküste ankommen, seit Jahren zurück. 2018 war Spanien noch das Land, das am Mittelmeer die meisten Ankünfte irregulärer Einwanderer registrierte. Im ersten Halbjahr 2023 wurden auf den Kanaren rund 7200 Schutzsuchende aufgenommen – 20 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Ankünfte in ganz Spanien sanken in den ersten sechs Monaten auf 12.200, eine Abnahme um 11 Prozent.

Spanien schreibt diesen Rückgang der besseren Zusammenarbeit mit Marokko zu. Das nordafrikanische Land wird seit einigen Jahren von Spanien wie von der EU mit Geld sowie Ausrüstung bei der Überwachung der Seegrenzen unterstützt. Deswegen weichen die Schlepperbanden vermehrt nach Algerien, Tunesien und Libyen aus. In Italien, wo derzeit in Südeuropa die meisten Migranten ankommen, wurden laut UN-Angaben bis Ende Juni 65.000 Ankünfte gezählt – deutlich mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. Worin sich spiegelt, dass der Migrationsdruck übers Mittelmeer nicht kleiner geworden ist. Lediglich die Routen haben sich verschoben. (ze)