Washington./Ottawa. “Notstand“ in den Vereinigten Staaten: Kanada warnt Menschen aus der LGBTQ-Gemeinde vor Reisen in die USA – und kann das gut begründen.

Es ist eine Reisewarnung der besonderen Art: Weil sie vom großen Nachbarn im Norden kommt. Kanadas Regierung rät Schwulen, Lesben, Transsexuellen und anderen Mitgliedern der rund eine Million Menschen zählenden LGBTQ-Gemeinde dringend dazu, vor Trips in die USA genauer hinzuschauen.

Sie sollen sich damit vertraut machen, wo zwischen Montana und Maryland, Kalifornien und Kentucky das gesellschaftlich-politische Klima für sexuelle Minderheiten ungesund sein könnte. Oder sogar lebensgefährlich.

Kanada nimmt die Mahnungen von Menschenrechtlern ernst

Chrystia Freeland, Stellvertreterin von Premierminister Justin Trudeau, machte die Aktion jetzt öffentlich. Die Regierung in Ottawa reagiert auf das, was die US-Menschenrechtsorganisation "Human Rights Campaign” (HRC) gerade zum allerersten Mal praktiziert hat: Sie rief den “Notstand” für LGBTQ-Menschen in Amerika aus.

Kanadas Premierminister Justin Trudeau.
Kanadas Premierminister Justin Trudeau. © Brian McInnis/The Canadian Press/AP/dpa

Der Grund klingt erschütternd: “Man will uns unsichtbar machen.” Das Phänomen lässt sich mit Zahlen belegen: Die Bürgerrechts-Organisation ACLU hat ermittelt, dass im laufenden Jahr in ganz Amerika über 500 Gesetzentwürfe in den Regional-Parlamenten eingebracht wurden. Sie richten sich gegen Minderheiten, die nicht nach der heterosexuellen Norm leben wollen. 75 Gesetze seien bereits in Kraft getreten.

Zu den am stärksten ins Visier genommenen Gruppen gehören Transgender-Menschen. Zwei Dutzend Bundesstaaten – in der Regel republikanisch beherrscht – haben Jugendlichen eine Geschlechtsumwandlung verboten.

Floridas Gouverneur profiliert sich als Scharfmacher gegen LGBTQ

In weiten Teilen Amerikas ist Transgender-Jugendlichen, etwa Jungen, die eine Transformation zum Mädchen hinter sich haben, die Teilnahme an Wettkämpfen etwa in der Leichtathletik oder im Schwimmen untersagt. “Wettbewerbsverzerrung”, lautet das Standard-Argument. Auch das Aufsuchen einer Toilette, die nicht dem Geschlecht bei Geburt entspricht, ist vielerorts unter Strafandrohung verboten.

Andere Gesetze, hier hat Florida unter Gouverneur und Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis die Führerschaft übernommen, zielen darauf ab, LGBTQ-Themen im Schul-Unterricht zu zensieren oder ganz zu streichen. Homosexualität oder Transgender-Themen würden zur Indoktrinierung von Kindern missbraucht, behauptet DeSantis. Lesen Sie auch: So will DeSantis Trump und Biden aus dem Weg räumen

Der “Florida Parental Rights in Education Act”, auf der Straße “Sag nicht schwul-Gesetz” genannt, verbietet etwa Schülerinnen und Schülern bis zur 3. Klasse über sexuelle Orientierung und Gender-Identität zu informieren.

Biden kann diskriminierende Gesetze nicht verhindern

Auch Shows mit “Drag Queens" (Männer, die sich als Frauen verkleiden) sind an mehreren Orten Zielscheibe von gesetzlichen Aktivitäten oder sogar unter Strafe gestellt worden. Tennessee, Montana, South Carolina, Texas und North Dakota gehören laut ACLU zu den aggressivsten Bundesstaaten. Das Weiße Haus unter Präsident Joe Biden protestiert regelmäßig dagegen, kann aber kaum in die Gesetzgebung der Bundesstaaten eingreifen.

Die Diskriminierung der LGBTQ-Gemeinde zieht sich aus Sicht von Betroffenen bis zum mehrheitlich konservativen Obersten Gerichtshof in Washington. Dort wurde im Juni der Klage einer evangelikalen Web-Designerin aus Colorado mit 6:3-Stimmen stattgegeben. Sie hatte sich geweigert, für Hochzeiten homosexueller Paare Internetseiten anzulegen.

Diskriminierende Gesetze und eine latent LGBTQ-feindliche Haltung gehören bis hin zu Ex-Präsident Donald Trump mittlerweile zum Standard-Repertoire im Kulturkrieg der Republikaner. Kaum verschlüsselt werden LGBTQ-Menschen mit Pädophilen gleichgesetzt, die es auf die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendliche abgesehen hätten. Ein Vorwurf, den die Bundespolizei FBI mit Verweis auf die Kriminalitätsstatistiken zurückweist.

AnMarie Rodgers (r) und Jennifer Kanenaga küssen sich vor dem Start der jährlichen San Francisco Pride Parade im Juni 2023.
AnMarie Rodgers (r) und Jennifer Kanenaga küssen sich vor dem Start der jährlichen San Francisco Pride Parade im Juni 2023. © dpa | Noah Berger

360 Hassverbrechen in nur einem Jahr

Die Rhetorik, die oft in Feindseligkeit und Hass münde, bleibt nach Erkenntnissen der “Anti-Defamation League” (ADL) nicht ohne Wirkung. Die ursprünglich gegen Antisemitismus gegründete Lobby-Organisation hat von Frühjahr 2022 bis Frühjahr 2023 in 46 von 50 Bundesstaaten fast 360 Hassverbrechen gegen die LGBTQ-Community registriert.

Trauer um O’Shae Sibley, der Ende Juli bei einer schwulenfeindlichen Attacke im New Yorker Stadtteil Brooklyn getötet worden war.
Trauer um O’Shae Sibley, der Ende Juli bei einer schwulenfeindlichen Attacke im New Yorker Stadtteil Brooklyn getötet worden war. © Spencer Platt/Getty Images via AFP

Dabei geht es nicht selten um Leben und Tod. Noch frisch ist der Fall O’Shae Sibley. Der 28-Jährige war in der queeren New Yorker Tanz-Szene unterwegs. Ende Juli geriet seine Clique an einer Tankstelle in Brooklyn mit fünf Teenagern aneinander, die schwulenfeindliche Parolen skandierten. Sibley versuchte sich als Schlichter. Er endete mit einem tödlichen Messerstich ins Herz auf dem Asphalt.

Kein Einzelfall. Auch in anderen Bundesstaaten kam es, oft angefeuert durch erzkonservative und religiöse Gruppierungen, laut HRC zu regelrechten Jagd-Szenen.

Elton John geißelt Welle der Wut und Homophobie

Das Ressentiment geht nach Einschätzung von Experten der Georgetown-Universität in Washington zurück auf ein zehn Jahre altes Urteil des Obersten Gerichtshofes. Damals wurde gegen wütende Proteste von rechts die gleichgeschlechtliche Ehe landesweit legalisiert. Radikal-konservative Organisationen hätten damit "bis heute nicht ihren Frieden gemacht”.

Repressalien gegen die LGBTQ-Gemeinde werden regelmäßig auch von Prominenten im Kulturbetrieb gegeißelt. Zuletzt beklagte der britische Popstar Elton John eine “wachsende Welle der Wut und Homophobie” in Amerika.

Das Weiße Haus hatte im Sommer neue Initiativen zum besseren Schutz der Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und queere Menschen (LGBTQ) angekündigt. Es würden in Zukunft mehr Ressourcen verwendet und Behörden enger verzahnt, um die Sicherheit von “Pride”-Feierlichkeiten, Märschen, Gemeindezentren, Gesundheitseinrichtungen und Unternehmen besser zu schützen, sagte Präsident Joe Biden. Das könnte Sie auch interessieren: Tragödie in Florida: Rassismus und Hass in Amerikas Schatten