Berlin. Millionen Bürger werden Wochen vor dem Urnengang am 26. September ihre Stimme per Post abgeben. Und die Pandemie verstärkt den Trend.

Die Bundestagswahl beginnt am Montag. Richtig gelesen: Montag.

Bis Sonntag müssen alle Wahlberechtigten in den entsprechenden Verzeichnissen eingetragen sein – zu Wochenbeginn geht es bundesweit mit dem Versand der Wahlbenachrichtigungen los. In den Folgetagen geben die ersten Bürger ihre Stimme per Brief ab, Wochen vor dem Urnengang am 26. September.

Die Frage ist nicht, ob der Anteil der Briefwähler zunehmen wird. Davon gehen alle Fachleute aus. Seit 1990 ist der Trend ungebrochen. Die Frage ist, wie sehr ihn die Pandemie noch verstärken wird.

„Wenn wir im September eine massive vierte Welle bekommen, wird auch der Briefwähleranteil deutlich steigen“, sagte der Demoskop Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen unserer Redaktion. „Auf bis zu 50 Prozent“, glaubt der Wissenschaftler Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung.

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Viele schrecken davor zurück, die Briefwahl zu beantragen

Mit Schwankungen hält der Trend zur Briefwahl an, seit sie 1957 zugelassen wurde. Damals lag der Anteil der Briefwähler bei 4,9 Prozent. 60 Jahre später bei der Bundestagswahl 2017 waren es 28,6 Prozent. Die Vorgabe, am Sonntag zwischen 8 und 18 Uhr ins Wahllokal zu gehen, „ist für viele Menschen einfach nicht mehr zeitgemäß“, sagte Vehrkamp unsere Redaktion.

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Für Wissenschaftler drückt sich in der Briefwahl eine Individualisierung der Gesellschaft aus. Sie sei „einfach bequemer“ (Jung) und für den Einzelnen ein Gewinn an Autonomie. Lesen Sie auch: Wer ist bei der Bundestagswahl 2021 wahlberechtigt?

Das Wahlsystem ist strukturkonservativ. Es gibt zwar an die 80.000 Wahllokale, aber man darf nicht seine Stimme überall dort abgeben, wo man sich gerade aufhält, was im Zeitalter der Digitalisierung kein Problem sein sollte. Auch die Briefwahlunterlagen bekommt man nicht etwa automatisch zugeschickt. Man muss sie vielmehr eigens anfordern.

Briefwahl-Auszählstress: Schon 2017 hatten Wahlhelfer wie hier in Münster viel zu tun.
Briefwahl-Auszählstress: Schon 2017 hatten Wahlhelfer wie hier in Münster viel zu tun. © imago/Rüdiger Wölk | imago stock

Die letzte bayerische Kommunalwahl fand am 15. März 2020 statt, in der Frühphase der Pandemie. Die Stichwahlen und eine Gesetzesänderung führte man 14 Tage später als reine Briefwahl durch – „mit großem Erfolg“, betont Vehrkamp, denn mit einer höheren Beteiligung.

Die Bundestagswahl wäre nach seinen Worten die Chance gewesen, die Briefwahl für alle testweise einzuführen – und mit der Wahlbenachrichtigung automatisch auch die Briefwahlunterlagen zu versenden. Doch die Chance ist vertan.

„Dass jeder die Unterlagen eigens beantragen muss, ist für die bildungsfernen Nichtwählermilieus eine Schwelle. Viele wissen ganz einfach nicht, wie das geht“, erklärt er. Der Effekt sei, „dass wir bei einer wahrscheinlich sinkenden Gesamtbeteiligung einen höheren Anteil von Briefwählern haben werden. Das wird die soziale Spaltung bei der Wahlbeteiligung noch einmal verstärken.“

Man weiß seit Jahren, wer vorzugsweise seine Stimme per Brief abgibt: tendenziell eher gebildete, politisch interessierte, bessergestellte Bürger, Studenten, die sehr mobil sind, aber auch alte Leute und Kranke, deren Mobilität wiederum eingeschränkt ist, insgesamt etwas mehr Frauen als Männer, etwas mehr Westdeutsche als Ostdeutsche.

Steigender Anteil an Briefwählern verändert auch den Wahlkampf

Gewöhnlich fiel das Ergebnis der Unionsparteien „bei den Briefwählern meist höher aus als bei der Urnenwahl“, so Wahlforscher Jung. „Umgekehrt schneiden die rechten Parteien tendenziell bei den Briefwählern schlechter ab.“ Demonstrativ hält SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz auf vielen Plakaten Briefwahlunterlagen in der Hand, die Grünen starten am Sonntag eine Briefwahlkampagne.

Eine Frage des Timings ist es auch, dass die SPD am Samstag in Bochum die „heiße Phase“ ihrer Kampagne einläutet. Gegen den Trend von Union und Grünen erlebt sie eine Aufwärtsentwicklung zum idealen Zeitpunkt.

„Die meisten dürften ihre Stimmen vermutlich schon in den ersten zwei Septemberwochen abgegeben haben“, sagte der Kasseler Politologe Wolfgang Schroeder unserer Redaktion. „Eigentlich beginnt der Endspurt in diesen Tagen“, fügte er hinzu.

Seit Jahren beobachtet Wahlforscher Matthias Jung, wie „das Wahlverhalten immer variabler“ wird. Viele Menschen entscheiden sich erst in den letzten Tagen. „Das gilt auch weiterhin für die Urnenwahl.“ Aber tatsächlich, so Jung weiter, „fällt die Entscheidung bei einem immer größer werdenden Teil der Wähler schon drei, vier Wochen vorher via Briefwahl“.

Es bleibt kaum Zeit, Briefwähler umzustimmen

Im Grunde gibt es in den Kampagnen der Parteien einen Zwischenspurt hinsichtlich der Briefstimmen und zum Wahlabend hin den klassischen Schlussspurt. Alternativ den Wahlkampf vorzuziehen, früher zu plakatieren oder Triell-Debatten zu führen, erschien aussichtslos – mitten in den Sommerferien.

Gravierend ist die Zwei-Spurt-Theorie für den aus dem Tritt geratenen Unionsspitzenmann Armin Laschet. Ihm bleibt kaum Zeit, Briefwähler umzustimmen, die sich gegen ihn entschieden haben.

Im Frühjahr hatte man das umgekehrte Phänomen erlebt: Die Maskenaffäre und mehrere Rücktritte bei der Union wurden kurz vor den Urnengängen publik – für mehr als jeden zweiten Wähler zu spät für einen Denkzettel.