Trier. Wer hofft auf eine neue Politik? In dieser Folge unserer Serie fordern pflegende Angehörige mehr Geld – und eine Debatte über Würde.

Jeden Morgen beginnt die Pflege im Kühlschrank. Der Käse, die Marmelade, der Aufschnitt liegen im Fach ganz unten. Michael Lutz, 66, muss sie erreichen können, deshalb darf der Käse für das Frühstück nicht höher liegen, nicht oben liegen im Kühlschrank.

Seine Frau, Monika Lutz, 64, hat am Abend davor alles vorbereitet, das Brot ist geschnitten, die Butter schon auf den Tisch im Esszimmer gestellt. Wenn die Butter hartgefroren ist, kann Michael Lutz sie nicht mehr mit dem Messer streichen. Vor allem die ersten zwei Stunden morgens sind schwer, die Muskeln und Glieder steif, die Schritte fallen schwer, die Schmerzen groß, weil die Medikamente noch nicht wirken.

Michael Lutz steht gegen 5 Uhr auf, geht die Treppe vom Schlafzimmer runter in die Küche, hält sich mit beiden Händen am Geländer fest, gebückt, damit der Rücken nicht schmerzt. „Meine Sicht ist um 80 Zentimeter niedriger.“

Bei einem Sturz von der Leiter vor zwei Jahren brach der dritte Wirbel an. Das ist nur die eine Diagnose. Die andere: Parkinson. Die Krankheit kam so harmlos daher, Michael Lutz konnte morgens den rechten Knopf an seinem Hemd nicht mehr mit der linken Hand schließen. Irgendwas Orthopädisches, hat er nur gedacht, als er den Termin beim Arzt macht. Sechs Jahre ist das her.

Monika Lutz (64) pflegt ihren an Parkinson erkrankten Mann Michael (66) zuhause.
Monika Lutz (64) pflegt ihren an Parkinson erkrankten Mann Michael (66) zuhause. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Michael Lutz schiebt den Rollator über die Kieselsteine. Am Hang des Petrisbergs über Trier geht langsam die Abendsonne unter. Jugendliche spielen Volleyball, die Kellnerin im Restaurant schenkt Wein aus. Michael Lutz erzählt, dass hier in Trier bis vor einigen Jahren die französischen Truppen noch stationiert waren. Tausende Soldaten in Kasernen, die heute zu einem modernen Wohnviertel umgebaut wurden.

„Jean-Paul Satre war hier im Zweiten Weltkrieg als Soldat gefangen genommen“, sagt Lutz. Er referiert die Fakten wie bei einer kleinen Stadtführung. Wenn Lutz sitzt, zittern seine Beine, die Hände stützt er auf dem Tisch ab. Seinem Körper fehlt Dopamin. Der Botenstoff in den Nervenbahnen treibt die Bewegungen im Körper eines Menschen an. Seine Stimme ist etwas leiser, manchmal monoton. Aber seine Sätze über Satre oder den Petrisberg sind auf den Punkt, ohne „Ähs“ und „Öhms“.

Knapp fünf Millionen Menschen pflegen ihre Angehörigen zuhause

Michael und Monika Lutz machen viel gemeinsam und sind doch verschieden, er kommt aus einer Beamtenfamilie, sie ist auf dem Land großgeworden, er liebt Heavy Metal und Fotografie, sie ist christliche Buddhistin, arbeitet viel ehrenamtlich, half im Hospiz, baute den Kinderschutzbund in Trier mit auf, heute ist sie aktiv im Verein „Wir pflegen!“, eine Interessenvertretung pflegender Angehöriger. Lesen Sie auch:Jeder dritte Pfleger muss an seine körperliche Grenze gehen

Mit der Diagnose Parkinson wandelte sich das Leben von Michael Lutz. Aber auch das Leben seiner Frau. Früher sind sie viel gereist, nach Nepal und Singapur, mit dem Auto über die amerikanischen Highways. „Wir haben jetzt einen anderen Alltag gefunden“, sagt Monika Lutz. Sie pflegt ihren Mann zuhause im Haus auf dem Petrisberg in Trier. Sie kocht und kauft ein, weil Michael die schweren Tüten nicht mehr tragen kann. Sie legt ihm die Hemden raus, die er anziehen möchte. An guten Tagen duscht Michael selbst, an schlechten, wenn der Körper schmerzt, hilft seine Frau ihm beim Duschen und Abtrocknen.

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Michael Lutz sagt: „Ich möchte Menschen nicht zur Last fallen. Ich komme mir hilflos vor. Und das tut mir leid. Meine Frau macht das Frühstück, jeden Tag. Das habe früher immer ich gemacht.“ Michael und Monika Lutz’ neues Leben mit der Krankheit Parkinson kostet Kraft. Für beide. Beide müssen zurückstecken, er wegen seiner Krankheit, sie, weil ihre Freiheit in vielen Stunden der Pflege gewichen ist. Auch interessant:Studie warnt vor „Pflegeburnout“ bei pflegenden Angehörigen

Aber immerhin, sagen sie, haben sie einen Alltag gefunden. Hier, in ihrem Zuhause. „Die stationäre Pflege ist Krankenhausbetrieb. Ohne Zeit. Ohne Nähe“, sagt Michael Lutz. „Ich möchte zuhause bleiben. Bis zum letzten Atemzug.“ Monika Lutz sagt: „Wir wollen so lange wie möglich ohne Institution leben.“

Knapp fünf Millionen Menschen pflegen ihre Angehörigen zuhause. Frauen ihre Männer, Söhne ihre Mütter, Mütter ihre Töchter. Rund 80 Prozent aller Menschen mit Pflegebedarf werden von ihrer Familie betreut. Nur 20 Prozent in Einrichtungen. Öfter sind es Frauen, die Pflege übernehmen. Nicht nur in Kliniken, sondern auch zu Hause.

„Ich möchte zuhause bleiben. Bis zum letzten Atemzug“, sagt Michael Lutz, der an Parkinson leidet.
„Ich möchte zuhause bleiben. Bis zum letzten Atemzug“, sagt Michael Lutz, der an Parkinson leidet. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Selten war das deutsche Gesundheitssystem so oft in den Schlagzeilen wie seit der Corona-Zeit. In der Pandemie sind die Stärken der Versorgung deutlich geworden, aber vor allem die eklatanten Schwächen. Oft streiten Parteien im Wahlkampf über höhere Löhne von Pflegepersonal, über den Mangel an Fachkräften, über Betreuung in Kliniken und Test-Strategien in Altenheimen.

Geklatscht wurde im Lockdown vor allem für Pflege auf Krankenstationen. Nur sehr selten aber diskutiert die Politik über die Situation der Millionen Menschen, die zuhause pflegen. Und die dort gepflegt werden. „Dabei sind wir mehr als eine graue Armee“, sagt Michael Lutz. Für diese Menschen wird selten geklatscht. Lesen Sie auch:Urteil bekräftigt gleiche Rechte für Pflegekräfte aus dem Ausland

Während dieser Recherche hat unsere Redaktion mit mehreren Angehörigen gesprochen, die Menschen in ihrer Familie pflegen. Menschen wie Irina Haun aus Süddeutschland, die ihrem Mann hilft, der unter schweren Gleichgewichtsstörungen leidet. Sie sagt: „Die Pflege in der Corona-Zeit hat mir sehr viel abverlangt.“ Menschen wie Sabine Carstens, die ihre demenzkranke Mutter pflegt, und die nun selbst krankgeschrieben ist, weil sie nicht mehr kann. „Ich bin manchmal beim Abendbrot eingeschlafen.“

Menschen wie Michael und Monika Lutz aus Trier. Die beiden sagen, dass sie in einer guten Situation leben. Er hat mehr 40 Jahre als Techniker bei der Telekom gearbeitet, verbeamtet, bekommt eine gute Pension. Monika Lutz arbeitet – so gut es noch geht – als Psychotherapeutin, berät selbst viele Pflegekräfte, die in ihrem Job über ihre Grenzen gegangen sind. Ihre Praxis hat sie im Haus. Das hilft im neuen Pflege-Alltag.

Monika Lutz: „Ich kenne Pflegekräfte, die sich kaputter als die Patienten“

Vollzeit kann Monika Lutz nicht mehr arbeiten, zu viel Zeit beansprucht die Pflege. Und immer wieder schleicht sich in das Gespräch mit den beiden das kleine Wort „noch“ ein. Noch kann Monika Lutz Pflege und Beruf stemmen, weil sie selbst gesund ist. Sie will ihre Arbeit nicht aufgeben.

Wer mit ihr spricht, merkt, wie sehr sie ihren Beruf mag. Zwar hat Monika Lutz selbst nur wenig für die Rente ansparen können, weil sie ihr Leben lang viel ehrenamtlich gearbeitet hat. Müsste ihr Mann voll in die Tagespflege in eine Klinik, würde ihr Geld knapp werden. Aber da ist das abbezahlte Haus als Sicherheit. Noch melden sich Freude und Verwandte, kommen vorbei, helfen. Noch kann Michael auch mal ein paar Stunden allein sein.

Wenn Monika Lutz wie neulich eine Beratung in einer Klinik hat, verbringt er die Zeit am liebsten in einer Eisdiele in der Nähe. Noch kann er allein essen, sich anziehen, spielt gerne Schach. Und auch wenn er gerade nicht mehr durch die Welt reist, surft er im Internet um den Globus. Gerade besuchte er virtuell das teuerste Hotel der Welt, in Singapur.

Und vielleicht geht diese Geschichte gut aus, vielleicht kann Michael Lutz die Krankheit zurückdrängen. Gegen den krummen Rücken steht bald eine Reha an. Die Parkinson-Medikamente wirken. Gute Gedanken an die Zukunft gibt es, sagt Michael Lutz. Wenn es schlecht läuft, wollen sie erst darüber nachdenken, wenn es soweit ist, sagt Monika Lutz. Für sie steht nur eines fest: „Ich kenne Pflegekräfte, die sind kaputter als die Patienten, die sie pflegen. Ich möchte auch noch Kraft haben für das Ende meines eigenen Lebens.“

Deshalb haben sich Michael und Monika Lutz sehr viel Gedanken darüber gemacht, woran das Pflegesystem in Deutschland krankt. Und was die Politik besser machen sollte. Monika Lutz hat ihr Rüstzeug auf den Gartentisch gelegt, ein Artikel aus einer Zeitung. „Tochter pflegt, Staat stellt sie an“, ist die Überschrift. Der Text beschreibt ein Modellprojekt in Österreich, pflegende Angehörige erhalten vom Staat Mindestlohn für ihre Arbeit, maximal 1700 Euro netto. Plus Zahlungen in Sozialversicherungen.

Pflegende Angehörige haben Angst vor Altersarmut

Es ist auch das, was auch Sabine Carstens sagt, die ihre demenzkranke Mutter pflegt. „Ich finde, man sollte pflegenden Angehörigen weiter ein Gehalt geben, so wie Mütter es im Mutterschutz bekommen.“ Carstens, heute 55 Jahre alt, hat selbst viele Jahre in der Pflege in einer Psychiatrie gearbeitet. Derzeit ist sie krankgeschrieben, bekommt eine neue Hüfte. Mit dem Krankengeld, der Rente der Mutter und dem Pflegegeld komme sie „gerade so über die Runde“, sagt sie. Aber für sie selbst, ihre Vorsorge für das Alter bleibe nichts. „Ich habe Angst, dass ich in Armut komme, wenn ich nicht bald wieder arbeite.“

Doch genau das hat sie krank gemacht: Arbeit und die Pflege der kranken Mutter. Carstens zog bei ihr ein, arbeitete weiter, wenn die Mutter dreimal in der Woche zur Tagespflege kam, pflegte nach der Arbeit als Pflegerin zuhause weiter. Dann kam Corona, und Carstens‘ Plan brach zusammen. „Es gab keine Tagespflege mehr, es gab keine Notbetreuung.“ Erst nahm sie Pflegezeit, dann Urlaub, ihre Geschwister halfen, wo sie konnten. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Carstens wurde krank. Lesen Sie auch:So schlecht geht es 24-Stunden-Pflegekräften bei uns

„Wenn ich in der Politik höre, die will, dass wir bis 67 arbeiten… Ich kann schon mit 55 nicht mehr“, sagt sie. Carstens fordert von der Politik mehr Augenmerk auf den Alltag von älteren Pflegekräften, auf Arbeitsplätze, die auch Menschen wie ihr eine Chance geben, weiterzumachen in einem Beruf, den sie eigentlich sehr gerne macht, etwa auf ruhigeren Stationen oder in der Verwaltung. Aber das geht nur, wenn ihre Mutter versorgt ist.

Eine Pflegezeit, sagt sie, die sie zwölf oder sogar 36 Monate in Anspruch nehmen könne, je nach Pflegestufe, würde ihr erlauben, eine Auszeit vom Job zu nehmen – ohne zugleich Altersarmut zu fürchten. Monika Lutz sagt, dass Wertschätzung über Geld funktioniere, einerseits.

Monika Lutz: „Es muss auch Geld für Fürsorge bezahlt werden, für Menschlichkeit“

Einmal in der Woche kommt eine Pflegerin und verbringt Zeit mit Michael Lutz, wenn Monika arbeitet. Sie schiebt ihn spazieren, sie reden, spielen Brettspiele. 1500 Euro kostet das im Monat. Das Pflegegeld beträgt gerade einmal 545 Euro. Monika Lutz erwartet von der Politik: „Es muss mehr Geld gezahlt werden, aber nicht nur für waschen, Medikamente geben, Windeln oder Verband wechseln. Es muss auch Geld für Fürsorge bezahlt werden, für Menschlichkeit.“

Pflege sei mehr als ein Versorgungsauftrag. Für Lutz geht es auch um Würde. Zu viel werde debattiert über Betreuungsschlüssel und Klinik-Management, zu wenig über die Qualität. „Zu viele Pflegekräfte sind angelernt“, sagt Lutz. Und auch Carstens sagt, sie müsse sich darauf verlassen können, dass eine Pflegekraft qualifiziert ist – auch wenn sie nicht in einer Klinik angestellt ist, sondern zur Pflege zu ihrer Mutter nach Hause komme.

Und auch alternative Formen der Pflege würden in der Politik kaum eine Rolle spielen. „Zum Beispiel in Wohngemeinschaften, in denen mehrere Pflegende mit ihren Angehörigen zusammenleben, sich unterstützen“, sagt Monika Lutz. Sie könne sich das sehr gut vorstellen, wenn die Kraft allein irgendwann nicht mehr reicht.

Pflege wird oftmals nur negativ von der Politik dargestellt

Und so ist Geld für Menschen wie Lutz und Carstens nur das eine. Das andere sei ein anderer Blick auf die Menschen, die anderen helfen sollen. Monika und Michael Lutz sagen, dass Pflege oftmals nur negativ dargestellt werde von der Politik. Hohe Kosten, Knochenjob, kein „Gewinnerthema“, wie es so schön heißt bei den Parteien.

Als neulich Kanzlerin Merkel die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer stützte, als sie durch das Flutgebiet im Ahrtal gingen, hätte Lutz das gefreut. Aus einer Schwäche wird ein Moment der Menschlichkeit.

Und so erzählen Menschen wie Lutz und Carstens nicht nur über die Last, den Stress, die Sorgen ihrer Pflege zuhause. Sie erzählen von Geschwistern, die über die Pflege der Mutter wieder Nähe finden. Über Enkelkinder, die sagen, „Opa, wenn es dein Wunsch ist, schiebe ich dich auch tagelang durch die Straßen von New York“.

„Ich bin ja nicht nur Pflegende, ich bin vor allem Angehörige“, sagt Monika Lutz. Ihr Mann sei seit der Parkinson-Erkrankung „sensibler geworden, berührbarer“. Michael Lutz sagt, er habe seinen Geburtstag jetzt schon einige Male groß gefeiert, zwanzig Gäste, ein schönes Fest. „Das habe ich früher nie gemacht.“