Berlin. Ein Monat bis zur Bundestagswahl: Wie die SPD von den Schwächen der anderen profitiert – und andere Beobachtungen im Polit-Wettstreit.

Auf den Tag genau ist es ein Monat bis zur Bundestagswahl am 26. September. Demoskopen warnen vor verfrühten Urteilen. Umfragen eigneten sich für aktuelle Befunde, nicht für Prognosen, „schon gar nicht in Zeiten mit so unerwarteten Themen wie Flut und Afghanistan“, sagte Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen unserer Redaktion. Der Wahlkampf sei „ganz spezifisch“, die Volatilität so hoch, „dass da in immer kürzerer Zeit immer mehr Bewegung entstehen kann“. Sechs Beobachtungen.

Alles anders: Die Kanzlerin hört auf

Angela Merkel ist eine Bezugsgröße. Die AfD wurde 2013 gegründet. Sie hat nie eine andere Regierungschefin erlebt und sich in Abgrenzung zur CDU-Kanzlerin definiert. FDP-Chef Christian Lindner hat Merkel nie verziehen, dass sie die Liberalen 2013 als Koalitionspartner so abdrängte, dass sie aus dem Parlament geflogen sind. Ohne Merkel lässt er sich leichter auf ein Bündnis mit CDU und Grünen ein. Die SPD rechnet sich bessere Chancen aus, weil erstmals seit 2009 der Amtsbonus irrelevant ist. Gefühlt: Stunde null.

Der Höhenflug des Olaf Scholz

Die SPD spekulierte bei der Aufstellung ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz im August 2020 darauf, „dass in der Schlusskurve die Menschen sehr genau hingucken werden, wer von den drei Kandidaten eigentlich die Kompetenz, die Erfahrung und die Fähigkeit hat, das Land zu führen“, so Generalsekretär Lars Klingbeil.

Mit dem Vizekanzler hob die SPD einen Politiker auf den Schild, der nicht erst vorgestellt werden musste. Sie ging davon aus, dass die Aufholjagd lang und zeitraubend werden würde. Tatsächlich kam die SPD monatelang nicht voran. Seit Ende Juli ziehen die Werte an. Bei Forsa ist sie die stärkste Kraft, erstmals seit 15 Jahren. Bei einer Wahl wären die 23 Prozent von Forsa indes auch das zweitschlechteste Ergebnis der Bundes-SPD in der Nachkriegszeit.

Die Union stürzt auf Rekordtief

Wahlforscher Jung glaubt denn auch, „die plötzliche Erholung der SPD ist in erster Linie eine relative“ – und das Ergebnis der bisher schlechten Performance der Kanzlerkandidaten Annalena Baerbock (Grüne) und Armin Laschet (CDU). „Von daher wird es davon abhängen, ob und in welchem Umfang sich die beiden in den nächsten Wochen wieder fangen können.“

Die Union ist in heller Aufregung. Als Scholz nominiert wurde, stand sie bei Forsa 14 Prozentpunkte besser als die SPD. Kaum hatte sich die Union ihrerseits auf Laschet festgelegt, ging es für die Christdemokraten bergab – bis zum Forsa-Befund von dieser Woche: 22 Prozent. Am Freitag kommt das ZDF-Politbarometer. Wieder ein Nackenschlag?

Der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz landet in seiner Ursachenforschung bei der CSU. Er erwarte, dass Parteichef Markus Söder „jetzt mal aufhört und dass er auch den gemeinsamen Wahlsieg mit uns will und kämpft“, sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung. Dass Söder sich für den besseren Kandidaten hält und Laschet dies spüren lässt, verunsichert die Klientel der Union.

Längst hat der Negativtrend auch die CSU erfasst. In Umfragen kam sie zuletzt in Bayern nur auf 34,5 Prozent – für die erfolgsverwöhnte Partei ein Schock. Merz nimmt auch Laschet in die Pflicht. Der müsse jetzt „deutlich zulegen“ und zeigen, „wie die Strategie geht“. Wie Scholz verzichtet Laschet auf ein Team oder Schattenkabinett und führt einen Ich-Wahlkampf. Aber anders als Scholz fällt er mit Fehlern auf: Patzer, unglückliche Auftritte, Plagiatsvorwürfe.

Die FDP gibt den Ausschlag

Nach der Wahl könnten sowohl Laschet als auch Scholz Sondierungsgespräche führen. Noch im Juli war sich FDP-Chef Christian Lindner sicher, dass Laschet ins Kanzleramt einziehen würde. Er selbst steht als Finanzminister bereit: „Ich wäre bereit, das zu übernehmen – mit dem Respekt vor der Schuldenbremse, mit der klaren Ansage, Steuern sollten im Höchststeuerland nicht erhöht werden, wenn wir Jobs und private Investitionen wollen.“

Politisch fiele es mit der Union leichter als mit der SPD. Scholz hofft auf ein Bündnis mit Liberalen und Grünen. Lesen Sie hier: Das versprechen die Parteien den Familien

Auch die Flut hilft den Grünen nicht

Die Grünen waren mal die Partei der Stunde – auf Augenhöhe mit der Union. Dann wurde bekannt, dass Kanzlerkandidatin Baerbock ihre Biografie aufgehübscht und für ein Buch arg viel abgeschrieben hatte. Hinter der Partei liegt ein Horror-Sommer, in dem sowohl die Umfragewerte der Grünen als auch der Kandidatin zurückgingen.

Nicht einmal die Flutkatastrophe, die gemeinhin als ein Vorzeichen des Klimawandels beurteilt wird, verhalf der Ökopartei zu Höhenflügen, obwohl die Energie- und Umweltpolitik auch in diesem Wahlkampf ihr Kernanliegen ist. Vieles deutet darauf hin, dass die Grünen gegenüber der letzten Bundestagswahl (8,9 Prozent) zulegen werden.

Und doch scheint die Enttäuschung programmiert: Dann wären die Grünen ein Opfer ihres Erwartungsmanagements. Als Baerbock am Dienstag im Fernsehen mit Wählern diskutierte, fiel auf, dass sie nicht einmal ankündigte, was sie als Kanzlerin tun würde.

AfD und Linke sind Randfiguren

In Umfragen rangiert die Linke bei sechs bis sieben, die AfD bei zehn Prozent. Die Frage ist nicht, ob beide Parteien ein Potenzial haben, sondern ob sie ihre Anhänger mobilisieren können. Der wegen Corona zu erwartende hohe Briefwähleranteil ist für die AfD ein Problem. In der Vergangenheit haben Briefwähler seltener die AfD gewählt.

Das Fiasko des Afghanistan-Einsatzes könnte beiden einen Schub geben. AfD-Chef Tino Chrupalla warnt, Deutschland solle sich ein Beispiel an Österreich und der Schweiz nehmen, die eine Aufnahme afghanischer Flüchtlinge ablehnen. Die Linke wiederum fühlt sich darin bestätigt, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr der falsche Weg seien, um Frieden in die Welt zu bringen. Anders als die AfD ist sie nicht im Abseits, sie könnte ins Spiel kommen: als Partner von Rot-Grün.