Paris. 532 Tote an nur einem Tag – die rasant steigenden Infektionszahlen bringen die Kliniken in Frankreich an den Rand der Überforderung.

Die Schlange der zur Lieferung anstehenden und bis obenhin vollgepackten Einkaufswagen in einem überfüllten Supermarkt unweit des Place de la République in Frankreichs Hauptstadt Paris verlängert sich am Mittwochmittag im Minutentakt. „Eine Vorbeugemaßnahme“, seufzt Nathalie S., die sich ebenfalls ihre Einkäufe nach Hause bringen lassen will.

Normalerweise nimmt die als Direktionsassistentin arbeitende Mutter zweier schulpflichtiger Kinder den kostenpflichtigen Lieferdienst nie in Anspruch, „aber so viel kann ich einfach nicht tragen.“ Dabei weist sie auf 12 Flaschen Mineralwasser, zwei Großpackungen Klopapier sowie ein stattliches, hauptsächlich aus Mehl, Nudeln und Dosengemüse bestehendes Waren-Sammelsurium, das sich in ihrem Einkaufswagen auftürmt.

Pandemie: Frankreichs Präsident Macron hält TV-Ansprache

Zahlreiche Franzosen waren am Mittwoch auf großer Einkaufstour, nicht allein in Paris. Weil sie wie Nathalie S. befürchten, „dass uns Macron wieder einsperren will“. Am Mittwochabend hielt der Staatspräsident dann eine TV-Ansprache und kündigte tatsächlich ab Freitag einen neuen Lockdown an.

Unter anderem sollen Bars und Gaststätten geschlossen bleiben, Schulen dagegen offen. Allgemein soll von zu Hause aus gearbeitet werden, Universitäten sollen auf einen Online-Betrieb umstellen. Lesen Sie hier: So ist die Corona-Lage in Deutschlands Nachbarländern

Präsident Emmanuel Macron appelliert an die Franzosen.
Präsident Emmanuel Macron appelliert an die Franzosen. © AFP | Ludovic Marin

In einem ersten Lockdown im Frühjahr bekam die Regierung die Epidemie in den Griff. Doch bereits seit Anfang September steigt die Zahl der Neuinfektionen wieder an, seit Oktober sogar rasant. Am Sonntag wurden erstmals 52.000 neue Ansteckungen gemeldet, im Wochenrhythmus liegen sie inzwischen bei mehr als 360 je 100.000 Einwohner.

Gleichzeitig explodierte der Anteil der positiven Testergebnisse auf 17,8 Prozent. Schlimmer noch: Am Dienstag waren 532 Todesfälle zu beklagen, doppelt so viele wie am Vortag. Insgesamt sind dem Virus in Frankreich nun schon mehr als 35.000 Menschen zum Opfer gefallen.

Virologin: Krankenhäuser kurz vor der Vollauslastung

„Die Situation droht außer Kontrolle zu geraten“, kommentiert die am Pariser Krankenhaus Saint Louis arbeitende Professorin Anne-Claude Crémieux. Die renommierte Virologin meint damit in erster Linie die Situation in den Krankenhäusern, „die möglicherweise in zwei Wochen keine neuen Patienten mehr aufnehmen können“.

Crémieux hatte wie die meisten Experten noch vergangene Woche die Ausweitung der bis dahin nur in neun Großstädten von 21 bis 6 Uhr geltenden Ausgangssperre auf 53 (von insgesamt 99) Departments ausdrücklich begrüßt, „weil der derzeitige Trend unbedingt gebrochen werden muss“. Hintergrund: Ausgangssperre ab 21 Uhr – Frankreichs harter Corona-Weg

Damit nämlich unterliegen ihr seit dem vergangenen Wochenende mit 47 Millionen Franzosen rund zwei Drittel der Bevölkerung. Doch auch die Professorin bezweifelt jetzt, dass man die notwendigen 14 Tage abwarten kann, um die Wirksamkeit dieser Ausgangssperre zu beurteilen.

Erste Covid-19-Patienten müssen verlegt werden

Derzeit gilt, dass sich die Zahl der Covid-19-Patienten, die ins Krankenhaus gebracht werden müssen (Stand Dienstag: 18.955), alle zwei Wochen verdoppelt, und die Zahl derjenigen, die auf den Intensivstationen liegen (Stand Dienstag: 2909), alle drei Wochen. Im Vergleich zu der Lage auf dem Höchststand der ersten Welle im April (32.000 Krankenhauspatienten, 7200 Patienten auf den Intensivstationen) scheint der Alarmzustand da noch nicht unmittelbar bevorzustehen. Lesen Sie hier: Corona-Ampel soll über Infektionslage in Europa informieren

Aber viele Ärzte sehen das anders. Im Landesschnitt werden seit Beginn der Woche 57,5 Prozent der Betten auf den Intensivstationen allein von Covid-19-Patienten belegt, was wie im Großraum Paris mancherorts bereits zu Überlastungen und zu den ersten Verlegungen führt.

Der Druck auf die Kliniken wächst gewaltig

Dass es in Frankreich einen eklatanten Mangel an Intensivbetten gibt (drei Mal weniger als in Deutschland), ist bekannt. Und natürlich lässt sich das Problem nicht von heute auf morgen lösen. Die Kapazitäten wurden zwar bereits um 15 Prozent auf 5800 Betten aufgestockt, aber selbst bei dieser eher bescheidenen Erhöhung stoßen die Krankenhäuser wegen fehlender und durch die erste Welle ausgelaugten Pflegekräfte an ihre Grenzen.

Gut möglich, dass die aktuelle Lage wegen der ständigen Überforderung des Klinikpersonals tatsächlich noch angespannter ist als im April, wie mit Bertrand Martin der Direktor des Krankenhauses im Pariser Vorort Argenteuil behauptet.

Gesundheitsminister Olivier Véran hingegen versichert, dass Frankreich im Kampf gegen die Epidemie heute besser aufgestellt sei als im Frühjahr, „weil wir bei der Behandlung von Corona-Patienten Fortschritte gemacht haben und weil die Engpässe bei den Beatmungsgeräten, der Schutzkleidung für das Pflegepersonal und bei bestimmten Medikamenten beseitigt wurden“.

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    Macrons Optionen: Verschärfte Ausgangssperre oder Lockdown

    Doch für den Mangel an Intensivbetten gilt das nur begrenzt. Um solche frei zu halten, musste Aurélien Rousseau, der Leiter der Gesundheitsbehörde im Großraum Paris, am Wochenende die Krankenhausdirektoren anweisen, nicht dringende Operationen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

    Bereits die Einführung der Ausgangssperre hatte Macron mit dem Hinweis auf die zunehmend unter Druck stehenden Krankenhäuser begründet. Dass jetzt weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen, ist von Regierungs- über Oppositions- bis hin zu Expertenkreisen unumstritten. Wobei der Präsident nicht mehr allzu viele Pfeile im Köcher hat.

    Neben einer territorialen und zeitlichen Ausweitung der Ausgangssperre bleibt ihm genaugenommen nur die Keule des Lockdowns. Offenbar rang das Staatsoberhaupt in zwei aufeinanderfolgenden Krisensitzungen am Dienstag und Mittwoch mit dem Regierungskabinett um dessen Lastenheft. Laut Indiskretionen soll dabei nur die erneute Schließung der Schulen von vornherein ausgeschlossen worden sein.

    Franzosen unzufrieden, aber ohne Alternative

    Nach dem Slowdown, sprich der Ausgangssperre, ist in Frankreich ein Lockdown light wohl kaum zu umgehen. Und wie die ersten Hamsterkäufe am Mittwoch zeigen, bereiten sich unsere Nachbarn nicht nur mental auf diese Perspektive vor. Wobei trotz des ihnen nach wie vor in den Knochen steckenden Frühjahrs-Lockdown in diesen Tagen eher Fatalismus als Unmut um sich greift.

    Erstaunlich, denn laut Umfragen haben beinahe zwei Drittel der Bürger keine gute Meinung über das Corona-Krisenmanagement der Regierung. Andererseits ist eine große Mehrheit genauso davon überzeugt, dass von links bis rechts keine der Oppositionsparteien besser mit der Epidemie fertig würde, sollte sie das Sagen haben.