Berlin. Attentäter wie der von Wien sind den Behörden oft vor ihren Taten bekannt. Dennoch bleiben Islamisten weltweit eine große Bedrohung.

Es ist zwei Tage her, dass Angreifer die Universität in Kabul stürmten, 19 Menschen töteten und 22 verletzten. In Europa nimmt man solche Ereignisse inzwischen nur noch aus dem Augenwinkel wahr. Wenn Europa zum Schauplatz einer extremistischen Bluttat wie in Wien wird, sollten wir uns klar machen, dass der Terrorismus ein weltweites Unglück ist, dass wir eigentlich sicher leben und dass die meisten Opfer vermutlich Muslime sind. Man vergisst das schnell.

Die Täter sind Kriminelle, Radikale, manchmal verwirrt und lebensmüde. Wenn sich einer eine Waffe nimmt und wahllos Menschen ermordet, nennt die Welt ihn einen Amokläufer, ruft er „Allahu akbar“, war es ein Islamist. Die Ermittlungen stehen am Anfang. Es ist unglaublich, wer alles schon am Montagabend wissen wollte, dass der Angriff eine Kommandooperation war, aufwendig, von langer Hand geplant, einer Synagoge galt und hochprofessionell durchgeführt wurde. Diese vorschnellen Urteile sind eine Plage; und ja, die Medien sind daran nicht ganz schuldlos.

Seit der Pariser Lehrer Samuel Paty Mitte Oktober ermordet wurde, seit der unselige Konflikt um die Mohammed-Karikaturen wieder hochkocht, ist die islamistische Szene aufgewühlt. Überall. Auch bei uns. Und in Wien gab es verstörende Signale: Krawalle in Kirchen.

Der Schritt vom virtuellen Hass zur realen Gewalt ist klein

Es ist unklar, ob der Attentäter gesteuert wurde oder ein „einsamer Wolf“ war. Der Begriff provoziert Missverständnisse. Selbst der Einzeltäter ist nicht allein. Er hat eine ideologische Basis, ein Umfeld, das ihn anstachelt, und sei es die größte Echokammer von allen, die sozialen Netzwerke. Der Schritt vom virtuellen Hass zur Gewalt, vom Wort zur Tat ist klein. Ob die aktuelle Lockdown-Situation die heimlichen Radikalisierung solcher Einzeltäter begünstigt?

Politik-Korrespondent Miguel Sanches kommentiert den mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlag in Wien.
Politik-Korrespondent Miguel Sanches kommentiert den mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlag in Wien. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Man durfte hoffen, dass mit dem Rückzug des Islamischen Staates aus Syrien der militante Islamismus schwächer wird. Es war leider unrealistisch. Die Anhänger des IS sind auch ohne ein reales Kalifat bereit, für ihre Sache zu sterben. Dabei spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob ein Attentäter vom IS beauftragt, gesteuert oder „nur“ inspiriert wird.

Es gibt keine Insel der Seligen, der Terror kann jede Gesellschaft treffen, auch einen Staat wie Österreich, der weniger soziale Brennpunkte aufweist als zum Beispiel Frankreich. Es bewahrheitet sich überdies eine Erfahrung, die der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen mal so beschrieben hat: Immer, wenn es zu einem Anschlag kommt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Täter den Sicherheitsbehörden bekannt ist.

Viele Attentäter sind Sicherheitsbehörden vor ihren Anschlägen bekannt

So war es beim Attentäter von Berlin, auch neulich beim Messerstecher in Dresden, so verhält es sich beim Hauptverdächtigen in Wien, der aus dem Gefängnis entlassen worden war, sogar vorzeitig. Die Polizei kennt die Leute, hält sie für „Gefährder“, kann sie aber oft genug nicht stoppen. Es ist leichter, eine Gesellschaft in Quarantäne zu schicken als einen Islamisten zu isolieren. Es sind im Ergebnis quasi Anschläge mit Ansage.

Wir haben in den 19 Jahren seit New York, seit „9/11“ den Islamismus studiert und analysiert, die Sicherheitsbehörden verstärkt, hochgerüstet, mit neuen Kompetenzen versehen, bis an die Grenzen des Rechtsstaates, in manchen Staaten auch darüber hinaus. Aber wir sind nicht weitergekommen.

Prävention und Deradikalisierung laufen nicht gut, ausgerechnet Gefängnisse sind häufig Radikalisierungsräume. Der Täter von Wien hat ein Doppelleben geführt. Die Resozialisierungsangebote, die er annahm, waren eine Legende, um seine Radikalisierung zu verschleiern. Das muss uns schon deswegen alarmieren, weil in den hiesigen Haftanstalten über 100 Islamisten einsitzen, die irgendwann freikommen werden. Wie der Attentäter von Wien.