Berlin. Der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, über neue Flüchtlingsrouten und „Krawallmacher“ an der türkischen Grenze.

Die Der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, warnt vor einer Zunahme der Schlepper-Aktivitäten in Richtung EU in Folge der Corona-Krise. Im Interview spricht er über neue Flüchtlingsrouten und „Krawallmacher“ an der türkischen Grenze.

Herr Leggeri, wie schützen Sie Ihre Grenzbeamten gegen das Coronavirus?

Wir folgen den Richtlinien der nationalen Gesundheitsbehörden. Manche benutzen Atemschutzmasken, wo dies notwendig ist. Alle beachten die Hygienevorschriften: Sie waschen sich häufig die Hände mit warmem Wasser, Seife oder Desinfektionsmitteln, und sie halten im Kontakt mit anderen Menschen den Sicherheitsabstand ein. Die meisten Mitarbeiter unserer Zentrale in Warschau sind im Home Office. Die Gesundheit unserer Mitarbeiter und Beamten hat für mich höchste Priorität. Gleichzeitig bleiben die Frontex-Operationen aktiv, um die Mitgliedstaaten weiterhin zu unterstützen.

Bekamen Sie von EU-Staaten bereits Anfragen für einen Einsatz wegen der Coronakrise?

Die Coronakrise stellt auch uns vor neue Herausforderungen. EU-Staaten haben beschlossen, die Einreise von Angehörigen aus Nicht-EU-Ländern für 30 Tage zu verbieten. Die Kommission in Brüssel hat uns gebeten, hierfür Maßnahmen zur Umsetzung der Grenzkontrolle vorzuschlagen. Dabei geht es um Anleitungen und Anweisungen. Zum Beispiel: Wie sollten die EU-Mitgliedstaaten Ausnahmen für EU-Bürger handhaben, wenn sie aus Drittstaaten heimkehren wollen? Oder: Was für Grenzkontrollen und Gesundheitsmaßnahmen sollten praktisch durchgeführt werden? Wir arbeiten hier mit einer EU-Agentur für Gesundheit, dem European Centre for Disease Prevention and Control zusammen. Danach werden wir sehen, ob die EU-Mitgliedstaaten mehr Einsätze von Frontex anfordern.

Wie viele Leute hat Frontex im Einsatz, um die EU-Mitgliedstaaten bei dem Einreiseverbot zu unterstützen

An den EU-Außengrenzen haben wir derzeit rund 1200 Grenzbeamte und Küstenwächter. Die meisten sind in Griechenland. Maßgebliche Operation gibt es auch in Italien, Spanien, an der bulgarisch-türkischen Landgrenze und auch im Drittstaat Albanien. Dahin bewegen sich die größten Migrationsströme.

Derzeit schließt ein EU-Staat nach dem anderen seine Binnengrenzen. Wo bleibt da die europäische Koordination?

Um die Gesundheit der eigenen Bevölkerung zu schützen, haben die EU-Staaten rein rechtlich die Möglichkeit, ihre Binnengrenzen vorübergehend zu schließen. Aber wir streben bei der Gesundheit einheitliche Lösungen für die EU und den Schengenraum an. Derzeit gibt es Videokonferenzen mit der Kommission, den Mitgliedstaaten und Frontex: Wir wollen herausfinden, wie Grenzkontrollen in Zeiten des Coronavirus am besten funktionieren. Die EU ist in dieser Frage unzureichend ausgestattet. Wir brauchen mehr europäische Koordination und Standards, wenn es um Bereiche geht, wo Grenzkontrollen und Gesundheitsinspektion sich zusammenfügen sollen. Viele nationale Behörden haben uns genau darum gebeten.

Was ist bisher an den Außengrenzen schiefgelaufen?

Beim Thema Gesundheit gibt es viele unterschiedliche nationale Maßnahmen. So müssen in Polen alle, die einreisen wollen, zwei Wochen in Quarantäne. In anderen EU-Mitgliedstaaten ist das nicht so. Auch bei der Benutzung von Atemschutzmasken gibt es einen Flickenteppich von Regelungen. So wurden in den Erstaufnahmezentren für Flüchtlinge – den Hotspots – an den italienischen Außengrenzen bereits vor mehr als zwei Wochen sehr strenge Maßnahmen ergriffen: Grenzschutzbeamte sind dort verpflichtet, Atemschutzmasken zu tragen. In Griechenland kommt das erst jetzt.

Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln sind hoffnungslos überfüllt. Ärzte warnen sogar vor einer Corona-Epidemie. Was raten Sie?

Wir haben hierüber bereits mit den griechischen Behörden gesprochen. Mein Rat wäre, dass es deutlich weniger Menschen in den Aufnahmelagern gibt. Die Lage auf den Inseln ist untragbar.

Was schlagen Sie vor, um die dramatische Situation zu entschärfen?

Das Asylverfahren muss beschleunigt werden. Die Voraussetzungen hierfür sind da. Seit dem 1. Januar gilt in Griechenland ein neues Asylgesetz. Demnach ist es jetzt möglich, mehr Asylanträge zu bearbeiten. Und es gibt Fortschritte. Die Zahl der abgelehnten Asylbewerber, die von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschoben wurden, ist höher als früher. Das geschieht in Übereinstimmung mit dem Flüchtlings-Deal zwischen der EU und der Türkei von 2016.

Wie ist die Lage an der türkisch-griechischen Landgrenze? Wie viele Flüchtlinge gibt es dort derzeit noch?

Auf dem Höhepunkt waren es rund 20.000 Menschen. Jetzt sind es nur noch wenige Tausend. Vor ein paar Tagen sind viele Migranten wieder nach Istanbul gefahren. Ob es sich bei allen um politisch oder religiös Verfolgte handelt, ist aber die Frage. Es befinden sich auch Wirtschaftsmigranten darunter, die ein besseres Leben suchen und in die EU einreisen wollen. Und es gibt viele Krawallmacher, die zum Beispiel Tränengas von der türkischen Seite auf die griechische Polizei abfeuern. Bei den gewaltsamen Ausschreitungen waren etliche Afghanen beteiligt – weniger syrische Flüchtlinge. Eine derartige Eskalation haben wir noch nie erlebt.

Wurden diejenigen, die Sie als „Krawallmacher“ bezeichnen, von der türkischen Regierung gesteuert?

Als Chef einer EU-Agentur möchte ich das nicht bestätigen. Aber wir können nichts ausschließen.

Auch wenn sich die Lage im Moment etwas beruhigt hat: Rechnen Sie mit einem neuen Flüchtlingsansturm von der Türkei nach Griechenland?

Der Migrationsdruck und die Anzahl von schutzbedürftigen Menschen bleiben +-hoch. Es gibt in der Türkei mehr als vier Millionen syrische Flüchtlinge. Die verzweifelte Lage der Menschen in der nordsyrischen Provinz Idlib wird wahrscheinlich dazu führen, dass viele in die Türkei wollen. Hinzu kommt, dass eine große Zahl von Migranten aus Algerien, Marokko, Bangladesch, Pakistan und Afghanistan versuchen wird, über die Türkei in die EU zu gelangen. Aber wie gesagt: Nicht alle sind schutzbedürftige Menschen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat der EU gedroht, sämtliche Flüchtlinge aus seinem Land zu lassen. Wenn er das wahrmachen würde: Was müsste Brüssel dann tun?

Die Videokonferenz zwischen Erdogan, Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem britischen Premier Boris Johnson am Dienstag gab ein anderes Signal. Ich habe den Eindruck, dass der Dialog im Interesse aller weiter geht.

Dennoch: Sollte Erdogan die Tore öffnen, könnte die EU mit einem massiven Ansturm von Migranten umgehen?

Als Griechenland angesichts der Eskalation an der Grenze vor zwei Wochen Frontex um Hilfe gebeten hat, haben wir zusätzlich zu den bereits vorhandenen 500 Grenzbeamten 250 Kräfte in einem Kriseneinsatz entsandt. Alle EU-Mitgliedstaaten waren sich einig: Sie müssen und wollen die Regierung in Athen unterstützen. Die Entschlossenheit ist sehr stark. Alle haben die Lektion aus der Flüchtlingskrise von 2015 gelernt. Die Lehre von damals: Wenn die griechische Außengrenze nicht mehr funktioniert, gibt es starke Migrationsströme in die EU, die alle Mitgliedstaaten erreichen. Die nationalen Grenzschutzbehörden, aber auch Frontex sind heute viel besser aufgestellt: Wir haben aktuell 1200 Grenzbeamte und Küstenwächter, 2015 waren es nur gut 300.

Jenseits von Griechenland: Wo erwarten Sie in der Zukunft die größten Flüchtlingsanstürme?

Auch wenn derzeit weniger Migranten nach Italien kommen, sollte das Frontex-Personal dort bleiben. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass künftig mehr Migranten von Libyen nach Italien drängen. Die Route zwischen der Türkei und Griechenland wird hingegen derzeit ausreichend kontrolliert. Seit dem 1. März sind nur rund 1600 Migranten auf den griechischen Inseln angekommen, über die Landgrenze waren es 200. Das sind weniger als im Vorjahreszeitraum. Bereits im Januar und Februar war der Trend rückläufig.

Welche neuen Herausforderungen gibt es bei der grenzüberschreitenden Kriminalität?

Die kriminellen Netzwerke können sich sehr schnell an neue Situationen anpassen. Zum Beispiel an die Corona-Epidemie oder den Kriseneinsatz von Frontex in Griechenland.

Wie reagieren kriminelle Netzwerke auf das Coronavirus?

Wenn Europa wegen der Epidemie weniger attraktiv ist, könnten die Banden zum Beispiel die Preise für Schleuser-Transporte über Grenzen senken. Denkbar ist auch, dass sie die Routen verändern. Wir haben vor ein paar Wochen festgestellt, dass die Strecke von Westafrika auf die Kanarischen Inseln stark genutzt wird. Dort sind zwar dieses Jahr nur 1000 Migranten angekommen. Die Zahl könnte aber steigen.