Berlin. Hubertus Heil sieht den Staat sei in der Verantwortung, die Gesundheit zu schützen. Eine moralische Impflpflicht gebe es heute schon.

Hubertus Heil kommt gerade vom Bundespräsidenten, der ihm seine Ernennungsurkunde überreicht hat. Zeit zur Einarbeitung braucht der Sozialdemokrat nicht, er führt das Ministerium für Arbeit und Soziales schon seit vier Jahren. Im Interview mit unserer Redaktion unternimmt Heil einen Vorstoß, der in den Betrieben für Diskussionen sorgen wird.

Olaf Scholz hat Sie als „niedersächsisches Schlachtross“ in seinem Kabinett vorgestellt. Ist das ein Ehrentitel?

Hubertus Heil: Das zielt sicherlich auf das niedersächsische Landeswappen – und darauf, dass ich mich nachdrücklich für meine Überzeugungen einsetze. Wenn das gemeint ist, lasse ich mich gerne so nennen. (lacht)

Karl Lauterbach, der ewige Corona-Mahner, sitzt als Gesundheitsminister am Kabinettstisch. Wie wirkt sich das auf den Regierungskurs in der Pandemie aus?

Heil: Karl Lauterbach ist einer der führenden Experten für Pandemiebekämpfung und ein ausgezeichneter Gesundheitspolitiker. Er wird mithelfen, dass wir Deutschland durch diese schwere Zeit bringen. Dafür hat er die volle Unterstützung der gesamten Bundesregierung und des Krisenstabes, der im Kanzleramt unter Generalmajor Breuer arbeitet.

Unsere wichtigste Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich so viele Menschen wie möglich impfen lassen. Das ist die einzige Chance, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen.

„Der Sozialstaat wird einen neuen Ton anschlagen“, sagt der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Arbeitsminister Hubertus Heil.
„Der Sozialstaat wird einen neuen Ton anschlagen“, sagt der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Arbeitsminister Hubertus Heil. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Sind die Arbeitsplätze in Deutschland sicher genug vor Infektionen?

Heil: Die Regeln sind klar und gut – und ich bin dankbar, dass sie von Arbeitgebern und Beschäftigten überwiegend vorbildlich umgesetzt werden. Eine aktuelle Befragung meines Ministeriums zu 3G – also geimpft, genesen oder getestet – am Arbeitsplatz hat ergeben, dass 85 Prozent der Beschäftigten diese Regelung befürworten.

93 Prozent der Beschäftigten sind – Stand Mitte November – doppelt geimpft. Und die Bereitschaft der Ungeimpften, sich impfen zu lassen, hat sich von September bis November auf 20 Prozent verdoppelt. Der Arbeitsschutz leistet einen wichtigen Beitrag, dass wir das Infektionsgeschehen wieder runter bekommen.

Wer darf ins Homeoffice – und wer nicht?

Heil: Unternehmen müssen Homeoffice anbieten, wo immer das möglich ist. Und für Beschäftigte gilt es, dieses Angebot auch wahrzunehmen. Nachweislich haben die Regelungen zum Homeoffice mitgeholfen, die dritte Welle vor dem Sommer zu brechen. Ich erwarte, dass man sich an Recht und Gesetz hält, das leistet auch einen Beitrag, die vierte Welle zu brechen.

Reicht 3G am Arbeitsplatz, wenn der Impfschutz nachlässt und die Schnelltests doch nicht so zuverlässig sind?

Heil: Wir werden festlegen, wann die zweimalige Impfung nicht mehr ausreicht und geboostert werden muss. Dafür muss aber erst die Chance da sein, dass jeder sich boostern lassen kann. Außerdem werden wir Entscheidungen zur Impfpflicht treffen. Ich persönlich werde als Abgeordneter einer allgemeinen Impfverpflichtung zustimmen.

Die Sorge, dass eine Impfpflicht neuen Unfrieden in die Gesellschaft trägt, haben Sie nicht?

Heil: Viele sind mürbe und müde von dieser Pandemie. Viele Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit oder haben Angst vor weiteren Einschränkungen. Aber kein Verständnis habe ich für Vorgänge wie im sächsischen Grimma, wo ein Mob mit Fackeln vor dem Wohnhaus von Gesundheitsministerin Petra Köpping aufgezogen ist. Das können wir nicht dulden.

Wir haben sehr klare Regeln und wir werden noch einmal nachschärfen, wenn das notwendig ist. Der Staat ist in der Verantwortung, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Aber wir werden nur durchkommen, wenn jeder seine Eigenverantwortung wahrnimmt. Eine moralische Impfpflicht gibt es schon heute.

Wie viele Arbeitsplätze werden in der vierten Corona-Welle verloren gehen?

Heil: Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, in den vergangenen drei Wellen Millionen Arbeitsplätze zu sichern. Wir können noch nicht abschließend sagen, wie sich die Omikron-Variante auswirken wird. Im November waren die Zahlen am Arbeitsmarkt – gemessen an der schwierigen Lage – ausgesprochen gut.

Wir haben allerdings einen leichten Anstieg bei der Kurzarbeit. Der Einzelhandel beispielsweise leidet nicht nur unter den Einschränkungen, sondern auch unter der Kaufzurückhaltung in diesen unsicheren Zeiten. Um die wirtschaftlichen Folgen abzumildern, haben wir entschieden, die Regeln zum Kurzarbeitergeld bis 31. März zu verlängern …

… Reicht das?

Heil: Mein Ziel ist erst einmal, dass wir Deutschland gut durch die vierte Welle bringen. Alles Weitere werden wir besprechen. Die Kurzarbeit ist unsere stabilste Brücke über ein wirklich tiefes wirtschaftliches Tal. Sie hat millionenfach Arbeitsplätze gesichert.

Wie viele Menschen werden in diesem Winter von Kurzarbeit betroffen sein?

Heil: Wir erleben jetzt einen neuen Stresstest für den Arbeitsmarkt. Es ist nicht so schlimm wie in der ersten Welle, als wir sechs Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit hatten. Wir haben keine Glaskugel, sind aber darauf vorbereitet, dass in dieser vierten Welle die Kurzarbeit wieder stärker ansteigt. Es gibt Branchen wie das Veranstaltungsgewerbe oder den Messebau, die schon ganz lange leiden. Da wird auch der eine oder andere Arbeitsplatz verloren gehen. Aber insgesamt können wir den Arbeitsmarkt stabil halten mit den Instrumenten, die wir haben.

Wann können Arbeitslose mit dem neuen Bürgergeld rechnen?

Heil: Ich bin stolz, dass es uns gelungen ist, einen modernen Koalitionsvertrag zu verhandeln, der es uns ermöglichen wird, in den kommenden Jahren den Alltag der Menschen konkret zu verbessern. Dazu gehört unter anderem, dass wir das Grundsicherungssystem, das im Volksmund Hartz IV genannt wird, grundlegend verändern. Die Gesetzgebung für diese große Reform hin zu einem Bürgergeld beginnt im nächsten Jahr.

Ändert sich wirklich mehr als das Etikett?

Heil: Ja, und ich habe ein großes Ziel: Ich möchte Menschen in Arbeit bringen, wo immer es geht. Dazu gehört auch, sie dauerhaft aus der Arbeitslosigkeit herauszuführen. Langzeitarbeitslose, die keinen Berufsabschluss haben, sollen deshalb nicht mehr in irgendwelche Arbeit vermittelt werden. Vorrang wird es zukünftig haben, einen Berufsabschluss nachzuholen. Damit wachsen die Chancen, dauerhaft aus der Arbeitslosigkeit zu kommen.

Außerdem wird der Sozialstaat einen neuen Ton anschlagen. Wir wollen ermutigen und unterstützen und nicht drohen. Das alles wird für die Menschen eine große Verbesserung im Vergleich zum bestehenden System bedeuten.

Fallen die Sanktionen?

Heil: Wir werden unwürdige und unsinnige Sanktionen abschaffen. Das hat uns das Bundesverfassungsgericht auch aufgetragen. Es wird aber weiter Mitwirkungspflichten geben. Das ist auch richtig so.

DGB-Chef Reiner Hoffmann fordert eine Anhebung der Regelsätze „auf ein Niveau, das vor Armut schützt“. Was entgegnen Sie?

Heil: Wir haben in der Koalition eine Reihe materieller Verbesserungen vereinbart. So wird es zukünftig einen Zuschlag von 150 Euro im Monat geben für Menschen, die sich weiterbilden. Die Kindergrundsicherung wird dafür sorgen, dass Kinder in benachteiligten Familien besser unterstützt werden. Und wir ermöglichen es den Menschen, sich auf die Arbeitssuche zu konzentrieren, indem wir in den ersten zwei Jahren auf die Prüfung der Angemessenheit der Wohnung und auf die Vermögensanrechnung verzichten.

… Aber der Regelsatz bleibt unverändert?

Heil: Die Debatte um die Regelsätze wird es immer wieder geben. Die werden wir auch führen. Beim Bürgergeld geht es aber um mehr: Menschen in Not sollen sich nicht schämen, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Es geht mit dem neuen Bürgergeld ganz grundsätzlich um einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik.

Jetzt greifen Sie etwas hoch.

Heil: Nein. Deutschland hat – bei allen Lücken, die wir schließen müssen – immer noch einen der stärksten Sozialstaaten der Erde. Ich will erreichen, dass wir einen stärker vorsorgenden Sozialstaat bekommen, der Menschen unbürokratisch hilft und ihnen zur Seite steht – und nicht vor der Nase. Und wir werden den Weg in die Weiterbildungsrepublik gehen. Im Koalitionsvertrag haben wir dazu einen großen Instrumentenkasten vereinbart: Es soll staatliche Unterstützung geben, damit Beschäftigte sich Auszeiten nehmen können für Weiterbildung.

Konkret?

Heil: Wir wollen ein System der Bildungszeiten einführen, das wir aus Österreich kennen. Wer eine Auszeit von seinem Job nimmt, um sich weiterzubilden, erhält Unterstützung aus der Kasse der Bundesagentur für Arbeit auf der Höhe des Arbeitslosengeldes. Also 60 Prozent des Einkommens beziehungsweise 67 Prozent für Familien. Diese Bildungszeit dauert ein Jahr. Man kann sie aber auch als Bildungsteilzeit auf zwei Jahre strecken.

Und wenn der Arbeitgeber Nein sagt?

Heil: Viele Arbeitgeber haben ein Interesse daran, durch die Weiterbildung von Beschäftigten ihre Fachkräftebasis zu sichern. Das gilt besonders für Branchen im Strukturwandel.

Wann setzen Sie das um?

Heil: Die Bildungszeiten werde ich im nächsten Jahr auf den Weg bringen. Ich hoffe, dass wir das System dann 2023 in Deutschland einführen können. Aufstieg durch Bildung – hier ist ein großer Fortschritt mit den Ampel-Parteien möglich.

Der SPD-Parteitag wählt an diesem Wochenende eine neue Führung. Sie waren selbst einmal Generalsekretär, jetzt soll es Kevin Kühnert richten. Was geben Sie dem einstigen Juso-Chef mit auf den Weg?

Heil: Der bisherige Generalsekretär Lars Klingbeil hat eine ausgezeichnete Arbeit gemacht; und ich bin sehr froh, dass er nun unser neuer Parteivorsitzender werden will. Er hat einen großen Anteil daran, dass Olaf Scholz Bundeskanzler geworden ist. Kevin Kühnert kenne und schätze ich als klugen Sozialdemokraten. Wir haben gut zusammengearbeitet in den vergangenen zwei Jahren. Er ist ein riesiges politisches Talent. Deswegen braucht er von mir keine öffentlichen Ratschläge.

Kühnert hat sich über Jahre als Scholz-Gegner profiliert. Wie soll das gutgehen?

Heil: Die SPD hat zu neuer Geschlossenheit gefunden. Und Kevin Kühnert hat Olaf Scholz im Wahlkampf unterstützt, und wir werden weiter alle an einem Strang ziehen, um dieses Land in die Zukunft zu führen.

Sie kandidieren wieder als stellvertretender Parteivorsitzender. Was wollen Sie erreichen?

Heil: Die SPD ist zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik stärkste Partei im Bundestag geworden. Aber wir haben den permanenten Auftrag, uns in der Gesellschaft noch stärker zu verankern: etwa bei jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, im Kulturbereich, in den Betrieben und Gewerkschaften, in allen Regionen Deutschlands. Zu dieser Aufgabe will ich als stellvertretender Parteivorsitzender meinen Beitrag leisten.