Berlin. Prof. Reinhard Berner war in der Lockdown-Runde mit der Kanzlerin. Als Einziger war er gegen weitere Schul- und Kitaschließungen.

Professor Reinhard Berner, 57, ist Leiter der Universitäts-Kinderklinik in Dresden, sein Spezialgebiet sind Infektionskrankheiten. Er war am Montagabend bei der großen Runde dabei, die die Beschlüsse vom Dienstag und die strengeren Corona-Regeln vorbereitet hat. Darunter waren unter anderen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Ministerpräsidenten und -präsidentinnen, die Bundesminister Jens Spahn, Olaf Scholz und Franziska Giffey. Als Einziger in der Expertenrunde hat er sich gegen eine längere Schließung von Kindergärten und Schulen ausgesprochen. Warum?

Sie haben sich in der großen Runde mit der Kanzlerin für die Öffnung von Kitas und Schulen ausgesprochen? Warum?

Berner: In der Runde habe ich stellvertretend für die wissenschaftlichen kinderärztlichen Fachgesellschaften gesprochen und ich habe versucht, ein paar Punkte deutlich zu machen. Denn wissenschaftlich gesehen, gibt es keine klaren Gründe, warum Kitas und Schulen längerfristig geschlossen bleiben sollen. Von daher war ich gegen die Verlängerung der Schul- und Kitaschließungen über einen begrenzten Zeitraum hinaus. In Dresden führen wir ein Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), dort melden alle Kinderkliniken ihre stationären Fälle, freiwillig, aber flächendeckend. Heißt wir haben eine gute Übersicht darüber, wie viele Kinder seit Beginn der Pandemie in Deutschland mit dem Coronavirus im Krankenhaus waren. Und das waren seit März bis Ende Dezember etwa 800 Kinder in Deutschland.

Ist das viel oder wenig?

Berner: Enorm wenig! 800 von 14 Millionen Kindern und Jugendlichen! Diese 800 Kinder waren mit einer Coronavirus-Infektion im Krankenhaus, darunter gab es schwer erkrankte und leicht erkrankte Kinder. Manche waren im Krankenhaus, weil sie sich den Arm gebrochen hatten und man durch Zufall festgestellt hat, dass sie positiv waren. Andere waren schwerer krank oder mussten auf der Intensivstation behandelt werden. Und man darf die beiden Kinder nicht vergessen, die am Virus gestorben sind. Das ist furchtbar und tragisch.

Grundsätzlich besagen die Zahlen aber, dass Kinder nicht so häufig am Coronavirus erkranken?

Berner: Ja. Wir wissen, dass Kinder weniger empfänglich für Infektionen sind. Vor allem je jünger sie sind. Und wenn insbesondere junge Kinder mit Coronavirus infiziert sind, das ist ausreichend gut belegt, kommt es seltener zu einer Weitergabe der Infektion.

Professor Reinhard Berner, Leiter Kinderklinik im Universitätsklinikum Dresden.
Professor Reinhard Berner, Leiter Kinderklinik im Universitätsklinikum Dresden. © Professor Reinhard Berner

Gilt das auch für Corona-Hotspots?

Berner: Wenn es in einer Region viele Infektionen gibt, dann gibt es auch in den Einrichtungen wie Schule und Kita mehr Infektionen, das ist klar. Aber die Europäische Gesundheitsbehörde (ECDC) hat am 23. Dezember noch einmal den aktuellen Wissensstand veröffentlicht, Kinder sind nicht die Treiber der Pandemie.

Okay, wer dann?

Berner: Das sind im Wesentlichen die jungen Erwachsenen, die mittelalten Erwachsenen, alle die, die viele Kontakte haben, ob jetzt privat oder beruflich, weniger Abstand halten und nicht konsequent Maske tragen. Dann werden die Kinder eigentlich für das Verhalten der Älteren verantwortlich gemacht. Ein Punkt, den ich auch in der Runde angesprochen habe: Was in den Schulen und Kitas passiert, entscheidet sich nicht in den Schulen und Kitas. Sondern außerhalb dieser Einrichtungen

Wo dann?

Berner: Das fängt beim Kontaktverhalten der Eltern vor den Einrichtungen an und auf dem Schulweg, bei den vollen Schulbussen und im Nahverkehr. Aber viel wesentlicher ist, dass Verhalte aller erwachsenen Menschen, nicht nur der Eltern im Privaten, es entscheidet, ob sich das Virus verbreitet oder nicht.

Wie hat man auf Ihre Erkenntnisse in der Merkel-Runde reagiert?

Berner: Freundlich. Aber es gab andere Experten, die die Schulen für entscheidend im Infektionsgeschehen halten. Dieser Meinung bin ich nicht, weil es bisher wirklich nur wenig Ausbrüche oder auch nur Hinweise für hohe Dunkelziffern an Schulen gab. Andere Studien zeigen: Wenn in Familien das Virus auftritt, sind es meist die Erwachsenen, die die Kinder anstecken.

In Hamburg gab es eine Schule, an der Ende Dezember unter Lehrern und Schülern 94 Corona-Infektionen gezählt wurden. Das war deutscher Corona-Schulrekord.

Berner: Ja, das ist eine Schule von rund 400 in Hamburg. So etwas gibt es immer. Das sind einzelne lokale Ereignisse. Es gibt auch Ausbrüche in einem Krankenhaus, deshalb kann ich trotzdem nicht alle Krankenhäuser schließen. Für Kinder sind Schule und Kita systemrelevant. Und ich spreche jetzt nicht von der Ein-Kind-Familie in einem guten Stadtteil, ich spreche von Familien mit mehreren Kindern, in denen die Eltern arbeiten müssen, wie sollen die so eine Zeit bewältigen? Im Grunde ist die Situation für alle Kinder belastend, für nicht wenige aber ist sie fatal. Für diese Kinder sind die soziale Kontrolle durch die Institutionen und das tägliche warme Mittagessen überlebenswichtig.

Lassen wir die Kinder aus problematischen Familien im Stich?

Berner: Ja, und das schlimme ist, dass wir die Kinder nicht im Stich lassen, weil wir sie selbst vor der Infektion schützen wollen, sondern weil wir annehmen, dass es durch die Schulschließung zu weniger Ausbrüchen in Altenheimen kommt. Die unbelegte Annahme lautet, das Kind bringt das Virus mit, steckt die Mutter, die Pflegerin ist, an und die trägt das Virus ins Altenheim. Der Nutzen der Schulschließung ist also nicht für die Kinder, sondern für die anderen. Dieser Nutzen ist aber gar nicht belegt.

Wie hätte man die Schulen in der derzeitigen Lage geöffnet lassen können?

Berner: Versetzte Schulzeiten, doppelt so viele Schulbusse, eine Maskenpflicht für Kinder in weiterführenden Schulen oder sogar in der Grundschule. Der Betrieb der Schulen hätte sicherer gemacht werden können, bevor man die Schulen schließt. Mein Plädoyer in der Runde war, alle Maßnahmen auszuschöpfen und vor allem vorzubereiten. Die Frage ist nicht, was passiert am 10. Januar, sondern am 31. Januar? Das muss die Politik jetzt vorbereiten. Wir können nicht unendlich so weiter machen, das kann man den Kindern nicht zumuten.

Sind Sie nach der Runde enttäuscht gewesen?

Berner: Wenn ich über etwas enttäuscht bin, dann darüber, dass die wirklich nicht gut belegte Hypothese, von Schulen und Kitas gehen wesentlich die Infektionen aus, die Diskussion nach wie vor bestimmt. Schulen und Kitas dürfen nur als letzte geschlossen werden und müssen als erste wieder aufmachen.