Tübingen. Elif Cevirme ist Studentin und bald Lehrerin. Sie wünscht sich, dass nach der Bundestagswahl mehr für Chancengleichheit getan wird.
Der erste Berufswunsch, an den Elif Cevirme sich erinnern kann, war Lehrerin. Schon in der Grundschule wollte sie selbst unterrichten, weil sie ihre Grundschullehrerin so toll fand, wie sie heute erzählt. Später änderte sich das, als sie älter wurde, wollte Cevirme Pilotin werden, dann Ärztin.
Bis ihr Deutschlehrer in der Oberstufe, der die sprachbegabte Schülerin förderte, den alten Wunsch in Erinnerung rief: „Elif, Lehramt, wäre das nicht was für dich? Elif, versuch es doch mal.“
Elif Cevirme hörte auf ihren Mentor, gab dem Lehramt eine Chance – und stellte fest, dass sie mit ihrem ersten Berufswunsch genau richtig lag. Jetzt steht die 24-Jährige kurz davor, an die Schule zurückzukehren, dieses Mal vor der Klasse.
Studentin und bald Lehrerin – Elif Cevirme kennt die Schwächen des Bildungssystems
Cevirme ist im letzten Semester ihres Lehramtsstudiums für Deutsch, Englisch und islamische Religionslehre in Tübingen, im kommenden Jahr wird sie ihr Referendariat beginnen. Als Studentin und angehende Lehrerin kennt sie viele Facetten eines Bildungssystems, das im vergangenen Jahr auf eine harte Probe gestellt wurde.
Als Corona im Frühjahr 2020 Deutschland erreichte, kam der riesige, verzweigte Apparat des deutschen Bildungssystems ruckartig fast zum Stillstand – und sprang danach, trotz aller Beteuerung der Politik zur Wichtigkeit von Bildung, nur stotternd wieder an. Online-Vorlesungen für die Studierenden, Wechsel- und Distanzunterricht für Schülerinnen und Schüler. Stress und Unsicherheit für alle.
Der Lockdown? „Nach ein paar Wochen nur noch schlimm“
„Am Anfang hat ein bisschen Pause ganz gutgetan“, erinnert sich Cevirme an die Zeit des ersten Lockdowns. Hinter ihr lagen damals gerade ein Praxissemester und anstrengende Blockseminare, die Aussicht auf ein bisschen Entschleunigung klang gut.
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Doch das erste von mehreren Online-Semestern brachte rasch Ernüchterung. Mehr Arbeit als je zuvor, kein Zugang zur Bibliothek, Klausuren-Vorbereitung zu Hause und stets die Frage, wie lange das so weitergeht. „Nach ein paar Wochen fand ich es nur noch schlimm“, sagt die Studentin. Am schlimmsten seien die fehlenden sozialen Kontakte gewesen. „Ich bin ein sehr extrovertierter Mensch, ich brauche das.“
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Mehr als jeder zweite Studierende empfand den Lockdown als sehr belastend
Wie jemand, der es gut aushält, monatelang fast nur das eigene Zimmer zu sehen, wirkt Cevirme tatsächlich nicht. Neben dem Studium engagiert sie sich in einem Mentoring-Programm für Schüler und in einer Gruppe, die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Wenn sie erzählt, dann schnell und immer wieder unterbrochen von Lachen, selbst wenn es um dieses außergewöhnlich harte Jahr geht.
Nicht nur Cevirme empfand das Studium unter Corona-Bedingungen als schwierig. Eine Untersuchung der AOK Baden-Württemberg aus dem März 2021 ergab, dass 56 Prozent der Studierenden die Situation im Lockdown als sehr belastend empfanden – ein höherer Anteil als unter Selbstständigen, Arbeitnehmern und Rentnern.
Härter hat es noch die Schülerinnen und Schüler getroffen
Doch in der öffentlichen Debatte über das Leid im Lockdown kamen Studierende nur selten vor. Die Dozierenden hätten häufig sehr verständnisvoll reagiert und viel unterstützt, auch die Uni habe oft flexible Regeln gefunden, sagt Cevirme. Von der Politik aber seien die Nöte der Studenten und Studentinnen kaum gesehen worden. „Ich hatte das Gefühl, dass wir allein gelassen wurden.“
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Schlimmer als die Studierenden aber, das sagt sie auch, habe es die Schüler und Schülerinnen getroffen – auch die, die sie selbst unterstützt. Denn Cevirme engagiert sich seit kurzem bei „Bridge the Gap“, deutsch: Überbrücke die Lücke.
Sie ist eine von rund 600 Lehramtsstudierenden, die über das Modellprojekt des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums auf Honorarbasis zusätzlichen Förderunterricht geben, um Lernlücken auszugleichen, die 2020 entstanden sind.
Elif Cevirme gibt über das Modellprojekt „Bridge the Gap“ Nachhilfeunterricht
Dreimal die Woche trifft sie dafür zwei Mädchen und einen Jungen, um mit ihnen Unterrichtsstoff nachzubereiten und zu üben. Die Auswirkungen der Pandemie, sagt sie, haben diese Kinder schwer getroffen. „Die sind total verloren gegangen.“
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Eines der Mädchen komme aus einer geflüchteten Familie, die zweite müsse kämpfen, um sich zu konzentrieren, auch der Junge sei noch nicht lange in Deutschland. „Man merkt, das sind Kinder, die lernen wollen, aber sie haben es nicht einfach mit dem System.“
Wenig Ruhe zuhause, fehlende Geräte, Eltern, die oft nicht helfen können. So wie Cevirmes Schülerinnen und Schüler ging es während des Wechsel- und Distanzunterrichts vielen Kindern in Deutschland. Während manche die Möglichkeit hatten, im eigenen Zimmer am eigenen Laptop zu lernen, mussten andere mit Geschwistern Computer und Räume teilen und um darum kämpfen, in Ruhe zu lernen.
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Die Pandemie hat die ungerechte Chancenverteilung verstärkt
In unerbittlicher Deutlichkeit zeigte die Pandemie, was schon zuvor klar war: Über schulischen Erfolg entscheiden in Deutschland allzu oft nicht Begabung und Fleiß, sondern die Situation im Elternhaus. Die jüngste Pisa-Auswertung zum Thema von 2018 sah Deutschland im Bereich Bildungsmobilität trotz Fortschritten noch immer deutlich unter dem OECD-Schnitt. Kinder von Eltern, die eine Hochschule besucht haben, hatten demnach eine acht Mal höhere Wahrscheinlichkeit, selbst ein Studium abzuschließen.
Die wichtigste Aufgabe der Politik? Mehr Chancengleichheit
Was das praktisch heißt, merkt Cevirme im Unterricht mit „ihren“ Kindern aus dem „Bridge the Gap“-Programm. Bei den einfachen Matheaufgaben, habe kürzlich eines der Mädchen erzählt, könne der Vater noch helfen. Doch schon bei Textaufgaben werde es schwierig – die verstehe der Vater ja auch nicht. „Wenn du aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt kommst und dann noch eine Migrationsbiografie hast, hast du kaum Chancen“, sagt die angehende Lehrerin.
Mehr Chancengleichheit ist deshalb ihrer Meinung die wichtigste Aufgabe der Politik nach der Bundestagswahl. „Keine leeren Versprechungen mehr, dass man jetzt alle Kinder mitnimmt“, fordert sie. Stattdessen echte Fortschritte. Programme wie „Bridge the Gap“ und der Zwei-Milliarden-Topf des Bundes für „Aufholförderung“ nach Corona seien ein Start, sagt sie, aber nicht genug.
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Das Bildungssystem muss für alle funktionieren, nicht nur für Privilegierte
Begleitende Förderung für Kinder mit schlechteren Startbedingungen müsse endlich längerfristig angelegt werden. „Wir brauchen ein System, dass nicht nur für die Privilegierten funktioniert, sondern für alle. Es kann nicht sein, dass die Bildung davon abhängt, ob die Eltern Geld haben.“
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Helfen würden ihrer Meinung nach außerdem kleinere Klassen, ein späterer Wechsel auf die weiterführende Schule – und ein Bildungssystem, in dem sich die Vielfalt der Schüler und Schülerinnen spiegelt.
Ab nächstem Jahr will Elif Cevirme selbst unterrichten – und helfen
Letztens habe sie im Unterricht erzählt, dass sie mit ihrem Vater nur türkisch spreche, sagt Cevirme. „Da waren sie total erstaunt: ‚Sie sprechen ja auch eine andere Sprache!‘“ Sie habe dann erklärt, dass es doch toll sei, wenn man mehr als eine Sprache spricht. „Diese Wertschätzung ist wichtig.“
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Ab nächstem Jahr wird sie selbst vor einer Klasse stehen. Dann will sie tun, was kann, um allen ihren Schülerinnen und Schülern eine faire Chance zu geben. „Ich will gern Kinder motivieren, sich selber zu entfalten“, sagt Elif Cevirme – so, wie es ihr Deutschlehrer einmal für sie getan hat.