Berlin. Ein Deutscher soll hinter dem “NSU 2.0“ stecken. Der Mann ist kein Polizist – und könnte Adressen dennoch von Behörden bekommen haben.

Schon früh fällt Alexander Horst M. mit Drohungen auf. 2003 ruft er bei im Gefängnis Moabit an, gibt sich als ein Herr „Krebs“ aus, beleidigt einen Mitarbeiter als „feiges Schwein“. Und M. droht: „Sie werden getötet“. Angeblich habe sich der kleine Bruder von M. in der Justizvollzugsanstalt aufgehängt, weil er schikaniert worden sei. Doch einen Bruder hat M. gar nicht. Ein Berliner Amtsgericht verurteilt M. wegen Bedrohung – und anderer Delikte. Hehlerei und Urkundenfälschung gehören dazu.

Viele Jahre später, so ist sich zumindest die Staatsanwaltschaft Frankfurt sicher, bedroht Alexander M. erneut. Diesmal sein Ziel: Anwältinnen, die sich für Betroffene der rechtsterroristischen NSU-Mordserie einsetzen, Politikerinnen der Linkspartei, die gegen rechts kämpfen und Redaktionen wie die „taz“ in Berlin.

Die Drohbriefe fallen seit Sommer 2018 auf. Es ist eine ganze Serie, mehr als 130. Davon soll M. allein über 100 verschickt haben, andere stammen von Trittbrettfahrer. Die Schreiben, von denen unsere Redaktion Auszüge einsehen konnte, enthalten rassistische Beleidigungen, Beschimpfungen und auch frauenfeindliche Hetze.

"NSU 2.0": Betroffene ziehen aus Angst um

Auch die Anwältin Seda Basay-Yildiz erhält 2018 ein Fax. „Dieses kostenlose Fax wurde Ihnen von Uwe Böhnhardt geschickt“, ist es überschrieben. Und unterzeichnet mit „NSU 2.0“. Uwe Böhnhardt gehörte wie auch die verurteilte Beate Zschäpe zur rechtsterroristischen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, NSU. Die Terroristen hatten zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet.

Immer wieder sorgen die Briefe für Angst bei den Betroffenen, manche müssen sogar aus ihrer Wohnung ausziehen, an einen sicheren Ort. Rechter Terror – er hat in Deutschland eine lange Geschichte. Nun also ein neuer NSU? Eine neue Terrorgruppe? Wie schon bei Zschäpe und Böhnhardt scheinen die Ermittler über Jahre im Dunklen zu tappen, können den unbekannten Hetzer nicht enttarnen.

Polizei gelingt Festnahme von "Intensivtäter" in Berlin

Am Montagabend nehmen Spezialkräfte der Polizei den Deutschen Alexander M., heute 53 Jahre alt, in seiner Wohnung in Berlin fest, beschlagnahmen seinen Computer und andere Datenträger wie das Handy. Der Beschuldigte lebt allein, hat keine Kinder. Als die Beamten ihn festnehmen, saß er vor seinem Rechner.

M. ist der Polizei vielfach bekannt, eine Art „Intensivtäter“. Schon Mitte der 1990er verurteilt ein Berliner Gericht ihn wegen Betrugs, weitere Urteile folgen. Auch wegen rechtsextrem motivierter Straftaten fiel M. auf. Dem Berliner Verfassungsschutz war er nach Informationen unserer Redaktion nicht bekannt.

Als die Anwältin Basay-Yildiz das Drohschreiben 2018 erhält, sticht etwas Brisantes ins Auge: Der Verfasser kennt den Namen der gerade einmal zwei Jahre alten Tochter der Juristin. Und die Adresse der Familie, obwohl diese in den Behörden als gesperrt gilt. Eine Spur der Ermittler: Ist der Täter Polizist?

Zunächst Polizisten als Drahtzieher von NSU 2.0 im Verdacht

Die Staatsanwaltschaft findet heraus: Die Meldedaten von Basay-Yildiz wurden in einem Polizeicomputer auf einem Revier in Frankfurt abgefragt – kurz bevor das Fax vom „NSU 2.0“ an die Anwältin rausging. Eine Polizistin ist zu dem Zeitpunkt eingeloggt, die Beamten durchsuchen bei ihr, werten ihr Handy aus – und stoßen auf eine Chatgruppe mit rechtsextremen Sprüchen, Bildern und Aussagen.

Der Skandal weitet sich aus, als neue Drohmails auftauchen – und wieder Daten von hessischen Polizeicomputern abgefragt worden waren. Hessens Polizeipräsident muss gehen, die Regierung steht unter Druck.

Doch die Festnahme von Alexander M. in Berlin lenkt den Blick auf eine andere These: Alexander M. konnte mit Geschick und Recherche im Internet an die Daten der Betroffenen gelangen. Und nicht mit Hilfe von Polizisten, die seine rechte Gesinnung teilen. M. hatte nie in irgendeiner Polizeidienststelle gearbeitet.

Verdächtiger soll sich als Polizist ausgegeben haben

Offenbar gab er sich jedoch als Polizist aus, etwa bei der Redaktion der „taz“, wollte die Kontaktdaten einer Journalistin wissen. Ähnlich könnte er auch andere Behörden angerufen haben, die Mitarbeiter dort getäuscht haben und so an die Adressen gelangt sein. Die Drohschreiben enthalten Formulierungen, die immer wieder zeigen sollen, dass der Täter über „Insiderwissen“ aus den Sicherheitsbehörden verfügte. So gab er sich als „Sachbearbeiter“ aus, sprach von „Kameraden“, wenn er über die Polizei schrieb, nannte Justizkürzel und Dienstgrade.

Der Verfasser ging durchaus vorsichtig vor, verschlüsselt seine E-Mails, bleibt anonym, nutzt Anbieter von E-Mails im Ausland, etwa Russland. Alexander M., der nun tatverdächtig ist, war Fachmann für elektronische Datenverarbeitung – bevor er lange von Arbeitslosenhilfe lebte. Er soll sich einen Teil seiner Daten, so Recherchen anderer Medien, auch im verschlüsselten Internet besorgt haben – dort, wo illegal auf virtuellen Marktplätzen mit nicht-öffentlichen Daten gehandelt wird.

Am Ende war es nicht die Technik, sondern seine auffällige Sprache, die die Ermittler auf die Spur brachte. Kriminalisten analysierten die Drohbriefe, untersuchten die typischen Formulierungen, fanden Muster heraus. Und sie entdeckten, dass sich ein möglicher Täter sehr ähnlich äußerte, etwa in extrem rechten Internetforen.

"NSU 2.0": Trotz Ermittlungserfolg bleiben Fragen

Offen bleibt nun, ob Alexander M. tatsächlich mit Geschick und auf eigene Faust die Meldedaten für seine Drohbriefe den Behörden entlockt haben soll oder diese im Internet recherchierte. Oder hatte er doch Mitwisser? Auch bei der Polizei?

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) sieht die Polizei durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft entlastet. „Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die „NSU 2.0“-Drohmailserie verantwortlich“, sagte er.

Linken-Politikerin Martina Renner will die Polizei nicht so schnell aus dem Visier der Ermittlungen nehmen und verweist auf die offenen Fragen nach möglichen Mittätern. Zudem habe es „genug rechte Vorfälle“ in der hessischen Polizei gegeben, so Renner. Einen Grund zum Feiern sieht sie nicht. Renner selbst war von den Drohungen des „NSU 2.0“ betroffen, hatte mehrere E-Mails erhalten.

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Staatssekretärin Chebli glaubt nicht an Zufälle bei "NSU 2.0"

Auch für die Staatssekretärin in der Berliner Landesregierung, Sawsan Chebli, bleiben bei den Ermittlungen zu dem nun festgenommenen Tatverdächtigen viele Fragen offen. Wie viele andere Politikerinnen und Politiker erhielt auch Chebli mehrfach Hetzschriften mit der Unterschrift „NSU 2.0“.

„Es ist gut, dass der mutmaßliche Täter gefasst ist“, sagte Chebli. Nun müsse geklärt werden, ob der Tatverdächtige Mithelfer hatte – womöglich bei der Frankfurter Polizei. An einen Zufall könne sie angesichts des zeitlichen Zusammenhangs zwischen den dort erfolgten Abfragen von Namen und Adressen und der Zustellung der Drohschriften nicht glauben.

Das Thema Sexismus und Rassismus ist aus dem persönlichen Alltag von Sawsan Chebli, die früher auch als Sprecherin des Auswärtigen Amtes fungierte, ohnehin nicht verschwunden. „Ich erhalte jeden Tag und auf allen Kanälen Drohungen, Hass- und Hetzbotschaften voller Rassismus und Sexismus“, sagt Chebli. So sei es vor der Festnahme des Tatverdächtigen gewesen. So sei es immer noch.