Berlin. Nach einem Jahr, in dem das Coronavirus in Deutschland gewütet hat, gehört Vieles auf den Prüfstand. Nicht nur die Schuldenbremse.

Es ist ein Jahr her, dass der erste Corona-Fall hierzulande gemeldet wurde, am 27. Januar 2020 in Bayern. Ein Jahr der Einsamkeit liegt hinter uns, ein Jahr Versuch und Irrtum als Regierungskunst. Und ein teures Jahr. Kanzleramtsminister Helge Braun erinnert uns daran.

Die Schuldenbremse infrage zu stellen ist uneigennützig. Brauns Chefin, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), scheidet im September aus. Nach mir die Schulden – das ist keine politische Lebensart. Die Wahrheit auszusprechen, ist eine Gewissensfrage und in einem Wahljahr eine Charakterprüfung, der sich mehr als Braun die Kanzlerkandidaten stellen sollten.

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Corona und die Kosten: Ein übergeordneter Konsens muss her

Die Arbeitslosenversicherung gerät wegen der Aufwendungen für das Kurzarbeitergeld und die Krankenkassen wegen der medizinischen Kosten unter Druck. Die Staatshilfen für die Wirtschaft belasten die Finanzen. Die nächste Regierung wird einen Kassensturz machen und prüfen, ob sie die Ausgaben kürzt, Steuern und Abgaben erhöht oder sich ungebremst verschuldet.

Vermutlich wird sie alles gleichzeitig tun, hoffentlich in einem so intelligenten Mix, dass Nachfrage und Konjunktur nicht abgewürgt werden. Falls die Schuldenbremse ausgesetzt werden muss, bedarf es eines Konsenses über die Regierung hinaus. Wiewohl er Prügel bezieht, ist es richtig, dass Helge Braun Zwänge und Zusammenhänge aufzeigt. Manchmal muss man anstößig werden, um einen Anstoß zu geben.

Die Älteren und sozial Schwächeren müssen endlich besser geschützt werden

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent.
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sich ehrlich zu machen, ist nicht nur in Geldfragen das Gebot der Stunde. Es gibt weitere Defizite: Die sozial Schwächeren infizieren sich leichter und leiden mehr unter den Folgen der Pandemie; das gilt national und womöglich auch weltweit im Verhältnis zwischen Nord und Süd.

Um die öffentliche Gesundheit ist es nicht gut bestellt. Dass bis zu 40 Prozent der Deutschen zur Corona-Risikogruppe gehören, hat nicht nur mit dem hohen Altersdurchschnitt zu tun, sondern auch mit den sogenannten Zivilisationskrankheiten.

Die Alten- und Pflegeheime waren und sind schlecht geschützt, der Rückstand der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung unübersehbar, die Strukturen vielfach verkrustet. Zum Beispiel haben wir ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das in der Katastrophe zur Zuschauerrolle verdammt ist, weil es nur für den Spannungs- und Verteidigungsfall zuständig ist.

Versäumnisse bei den Schulen und Arbeitgebern – es war ein Jahr der Irrtümer

Einen Sommer lang wurde versäumt, die Schulen auf die vorhersehbare „zweite Welle“ im Herbst vorzubereiten. „Mobiles Arbeiten“ war überhaupt nur wegen der Pandemie einen Versuch wert; davor (und danach wieder?) überwog bei den Arbeitgebern das „Haben-wir-doch-noch-nie-gemacht-Denken“.

Beim Impfen kann man die Staaten an einer Hand abzählen, die unkonventionell vorgingen; die Europäische Union gehört kollektiv nicht dazu. Hoffentlich wird sie noch eine Erfolgsgeschichte, aber den Holperstart der Impfaktion kann man nicht in Abrede stellen.

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Die Einschränkung der Bürgerrechte und die Marginalisierung des Parlaments verlief zu glatt – für die Demokratie hätte man sich eine größere allergische Reaktion gewünscht. Hinter uns liegt ein Jahr der Irrtümer und falschen Annahmen, mal mehr, mal weniger verzeihlich.

Geradezu in eine neue Welt nach Corona

Aus Fehlern lernen wäre ein zivilisatorischer Fortschritt. Die Welt litt schon mal an Fieber, die Spanische Grippe ist nach 1918 aber dem kollektiven Vergessen anheimgefallen, wie die Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney in einem Buch beschreibt. Zu Beginn des zweiten Seuchenjahres darf man erwarten, dass mehr als nur die Schuldenbremse auf den Prüfstand gestellt wird. Es heißt, die Welt nach Corona werde eine andere sein. Unbedingt.