Berlin . Lemberg ist eine ukrainische Stadt an der polnischen Grenze. Auch hier leben Menschen mit dem Krieg. Reporter Jan Jessen ist vor Ort.

Eineinhalb Stunden nach Beginn der Ausgangssperre heulen wieder die Sirenen des Luftalarms durch die menschenleeren Straßen von Lemberg ( heute auch Lwiw ). Die Gäste des Hotels an der Shukhevycha gehen hinüber auf die andere Straßenseite, wo in einer Schule der Luftschutzkeller eingerichtet worden ist, manche wirken müde, andere schon schlaftrunken. Aufgeregt ist niemand. „Es ist heute schon der fünfte Alarm“, sagt die Rezeptionistin des Hotels, die sich jetzt eine gelbe Warnweste übergestreift hat. Die Sirenen gellen jeden Tag in Lemberg, und in der sechsten Woche des Krieges hat sich im Westen der Ukraine so etwas wie Routine eingeschlichen.

Eine Frau hustet trocken, die Luft in dem alten Gewölbekeller unter der Schule riecht nach modriger Feuchtigkeit. Vor den beiden kleinen Fenstern haben sie Steine aufgetürmt und sie haben die Fenster mit Plastikfolie verklebt, damit keine Glassplitter hineinprasseln, sollte die Druckwelle kommen. Männer ziehen schniefend ihre Nasen hoch, einige lachen verhalten, als sie im Schein der nackten Glühbirnen auf die Bildschirme ihrer Smartphones schauen.

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Tagsüber wirkt Lemberg friedlich

Einer hat ein Buch mitgebracht, die Seiten rascheln, wenn er umblättert. Eine ältere Dame murmelt ihrem Ehemann etwas ins Ohr, ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Stühle knarren. Ein Kind weint leise, als weine es in einem Traum. Nach einer Stunde gibt es Entwarnung. Die Menschen verlassen den Keller so unaufgeregt, wie sie gekommen sind.

Ukraine: Wie die Menschen den Krieg erleben

Abends eilen die Menschen in der ukrainischen Stadt Liwiw in ihre Wohnungen. Ab 22 Uhr ist Ausgangssperre.
Abends eilen die Menschen in der ukrainischen Stadt Liwiw in ihre Wohnungen. Ab 22 Uhr ist Ausgangssperre. © Reto Klar
Wieder einmal ist Luftalarm in Lwiw (Lemberg).
Wieder einmal ist Luftalarm in Lwiw (Lemberg). © Reto Klar / Funke Foto Services
Die Menschen flüchten in Luftschutzkeller.
Die Menschen flüchten in Luftschutzkeller. © Reto Klar/Funke Foto Services
Die Sirenen gellen jeden Tag in Lwiw (Lemberg).
Die Sirenen gellen jeden Tag in Lwiw (Lemberg). © Reto Klar / Funke Foto Services
Für die Menschen ist der Alarm in den sechs Wochen des Krieges so etwas wie Alltag geworden.
Für die Menschen ist der Alarm in den sechs Wochen des Krieges so etwas wie Alltag geworden. © Reto Klar
Auf einer Landstraße nördlich von Lemberg knien Menschen und warten auf den Leichnahm eines gefallenen Soldaten.
Auf einer Landstraße nördlich von Lemberg knien Menschen und warten auf den Leichnahm eines gefallenen Soldaten. © Reto Klar
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Tagsüber erinnert in Lemberg nur wenig an den Horror, der sich im Osten und Süden der Ukraine entfaltet hat. Die nahe der polnischen Grenze gelegene Stadt wirkt geschäftig, Restaurants und Geschäfte haben geöffnet, die alten Straßenbahnen rumpeln über die Gleise. Der Krieg mag auf den ersten Blick weit weg von Lemberg sein, aber er ist allgegenwärtig. Die Zufahrten zur Stadt werden von Checkpoints gesichert, Sandsäcke, klotzige Betonsperren und über Kreuz verschweißte schwere Metallstangen, die Panzer aufhalten sollen.

Zugänge zur Stadt werden kontrolliert: „Die Russen haben viele Spione hier“

Die uniformierten Männer, die hier stehen, gehören zur Territorial-Verteidigung, sie kontrollieren scharf, wer nach Lemberg hinein- oder hinausfährt. In der Stadt sind Zehntausende von Flüchtlingen. Der Verkauf von Alkohol ist seit Beginn des Krieges untersagt. Im Fernsehen läuft fast allen Kanälen ein und dasselbe Programm, der Krieg in allen Facetten, jedenfalls in denen, die die Moral der Bevölkerung nicht schwächen, sondern stärken sollen. Nur ein Sender strahlt Unterhaltungsfilme aus. Kurz vor 22 Uhr wird es jeden Abend hektisch, Menschen hasten schnell nach Hause, um vor Beginn der Ausgangssperre in ihren Wohnungen zu sein. Sie wird streng überwacht. Wer nach ihrem Beginn noch draußen ist, riskiert, als möglicher feindlicher Agent festgenommen zu werden.

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„Die Russen haben viele Spione hier“, sagt Vasily Zhukovsky. Er hat sich als Freiwilliger der Territorial-Verteidigung angeschlossen. Zhukovsky sitzt in seiner grünen Uniform auf einem Plastikstuhl in einem kleinen Pavillon auf dem Parkplatz eines Skoda-Autohauses am Stadtrand von Lemberg, neben sich ein AK-74-Sturmgewehr. Seine Einheit bewacht hier einen Checkpoint. Regen prasselt auf das Dach des Pavillons, es ist bitterkalt. In seinem früheren Leben war der 49-Jährige ein Geschäftsmann, jetzt ist er Soldat, und er wirkt immer noch irritiert darüber. Aber er und seine Familie hätten schon kurz nach Beginn der russischen Invasion realisiert, „dass wir etwas tun müssen“. Also hat er sich mit seinem Sohn freiwillig gemeldet.

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Warten auf einen Leichnahm: "Der erste tote Held aus unserem Landkreis"

Außerhalb von Lemberg ist jede größere Kreuzung, jedes noch so kleine Dorf mit Checkpoints gesichert, selbst hier so tief im Westen, in dem es bislang nur wenige russische Angriffe gab. Die brutale Wirklichkeit des Krieges kommt aber auch hierhin. Auf einer Landstraße nördlich von Lemberg stehen in der Nähe von Novovolynsk am Freitagabend Dutzende Menschen im Regen und in der Dunkelheit. Ihre Mienen sind ernst. Sie warten auf Igor Modyn. Der junge Mann war Soldat, er war im Osten im Einsatz und er wurde von einer Kugel in den Kopf getroffen.

„Er kommt aus unserem Nachbardorf Zastavne und er hat eine Frau und eine vierjährige Tochter“, erzählt Lina Vitychuk, und sie zeigt auf ihrem Telefon ein Bild des 25-Jährigen. Sie hatten auf Facebook für seine Behandlung gesammelt. Vergebens. An diesem Freitag ist Igor Modyn gestorben. „Er ist der erste tote Held aus unserem Landkreis. Wir sind hier, um ihm die letzte Ehre zu erweisen“, sagt Vitychuk, schluckt, und dreht sich zur Seite. Kurze Zeit später fährt der Krankenwagen mit dem Leichnam des Gefallenen langsam vorbei. Entgegenkommende Lastwagen halten an. Alle Menschen am Straßenrand sinken auf die Knie und verharren in Stille.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.