Berlin. Putin am 9. Mai: Keine Mobilmachung, keine Kriegserklärung gegen den Westen - aber Geschichtsfälschung und ein Vorwurf gegen die Nato.

Selten ist eine Militärparade samt Präsidentenrede mit so viel Spannung erwartet worden. Die Augen der Welt waren am Montagmorgen auf den Roten Platz in Moskau gerichtet, wo der russische Staatschef Wladimir Putin wie jedes Jahr am 9. Mai den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ über Hitler-Deutschland zelebrierte. Was wird er verkünden? Die Ausweitung der „militärischen Spezialoperation“, wie der Krieg gegen die Ukraine in Russland genannt wird? Eine Generalmobilmachung? Eine Kriegserklärung gegen den Westen?

Nichts von alldem. Er beschwor die Tapferkeit der Soldaten, Heimat und Vaterland, die Einheit des russischen Reichs und den Kampf gegen die Nazis. Unter Putins langer Herrschaft ist der 9. Mai zum wichtigsten nationalen Feiertag Russlands geworden.

Von diesem stolzen Tag soll für die russische Nation eine verbindende Kraft ausgehen. Der Sieg über Nazi-Deutschland wurde zum „Triumph der Einheit des sowjetischen Volkes“. Er gilt als größte Leistung, als wichtigster Erfolg. Und genau daran knüpft Putin an. Auch in der Ukraine wehre sich Russland gegen die Nazis – und werde siegen wie damals.

Ukraine-Krieg: Mütter suchen nach ihren Söhnen

Auffällig war, dass der russische Präsident kein Öl ins Feuer goss, am Tag des Sieges, verbal sogar abrüstete. In weiten Teilen klang seine Rede wie eine Rechtfertigung – nach innen wie nach außen. Putin betonte den heldenhaften Einsatz von Ärzten und Krankenschwestern und versprach den Hinterbliebenen der Opfer Unterstützung und Entschädigung. Das ist ein Novum. Der Krieg ist in Russland angekommen.

Gudrun Büscher
Gudrun Büscher © Reto Klar

Dass er öffentlich und so ausführlich über gefallene Soldaten und eigene Verluste spricht, zeigt den Druck, der ganz offensichtlich aus der eigenen Bevölkerung kommt. Die russische Führung konnte ihn nicht länger übergehen. Zu viele Mütter fragen nach ihren Söhnen, zu viele Frauen nach ihren Männern – Putin musste reagieren. Es macht ein kleines bisschen Hoffnung, dass nicht alles hinter Putins Lügenwand verschwindet. Lesen Sie hier: Rede zum 9. Mai – Wladimir Putin gibt der Welt Rätsel auf

Seine Botschaft ging aber auch nach außen – an den Westen, der eine Invasion in Russland und auf der Krim vorbereitet habe. Die Nato sei zu einer Bedrohung an Russlands Grenze geworden. Putin sagte in atemberaubender Geschichtsverdrehung, Russland habe präventiv die Aggression abgewehrt. Und er warnte erneut vor der Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Es müsse alles getan werden, um zu verhindern, dass sich „der Schrecken eines globalen Krieges wiederholt“.

Putin: Im Krieg gegen die Ukraine läuft es nicht gut für den Kremlchef

Beruhigend klingt das nicht. Zumal niemand außer Putin weiß, ob und wann der Punkt erreicht ist, an dem er die westliche Unterstützung für die Ukraine für eine Kriegsbeteiligung von außen hält. Sein Feind ist der Westen – die Nato, die USA. Davon wich Putin in seiner Rede keinen Zentimeter ab.

So furchtbar es klingt: Dieser Krieg wird vermutlich länger dauern als die bleiernen Corona-Jahre. Es ist kein Weg zu einem Waffenstillstand oder Frieden abzusehen. Putin scheint zu glauben, er könne ihn ohne weitere Soldaten für sich entscheiden. Dabei sind viele der von Europa versprochenen schweren Waffen noch gar nicht im Einsatz. Und die Ukraine wird keinen Frieden akzeptieren, der den Verlust des Donbass zur Bedingung macht.

Schon jetzt läuft es schlecht für den Kremlchef. Auch am Tag des Sieges. Nach Informationen von Kremlsprecher Peskow war der Himmel zu bewölkt für die spektakuläre Flugshow. Die Flugzeuge und Hubschrauber mussten am Boden bleiben. Und auch an der Front geht es für Russland kaum voran. Es ist der 75. Kriegstag. Die Kämpfe und Angriffe gehen mit unverminderter Brutalität weiter.