Erfurt. Warum sich im Eisschnelllauf zwischen Bangen und Hoffen einiges bewegt und ein junger Erfurter zu schnell für die Welt ist.

Beinahe entschuldigend zuckte Finn Sonnekalb mit den Schultern, als er ins Ziel glitt. Der Plan hatte vorgesehen, Lars Heinrichs in Position für den Spurt zu bringen. Weil der ESC-Teamgefährte im Gedränge des Massenstarts in der letzten Kurve stürzte, zog der Taktgeber selbst auf der Zielgeraden an – und gewann. Mal wieder.

Erster zu sein, daran kann sich der unbekümmert übers Eis jagende Schlaks vom ESC Erfurt gewöhnen. Und daran muss sich die Konkurrenz der Eisschnelllauf-Junioren derzeit gewöhnen. Mit seinen 1,92 Metern ist der 15-Jährige nicht nur dem einen oder anderen Älteren ein paar Zentimeter voraus, sondern auf dem Eis gar einen ganzen Schritt.

ESC-Junior Finn Sonnekalb ist der große Hoffnungsträger für die kommenden Jahre.
ESC-Junior Finn Sonnekalb ist der große Hoffnungsträger für die kommenden Jahre. © Sebastian Dühring

Vier Streckensiege und schnellere Zeiten als die bis 19-Jährigen zementieren das beim Deutschland-Pokal vor knapp zwei Wochen in Erfurt. „Ich kenne nichts anderes, als dass es läuft“, gibt sich Zehntklässler keineswegs großspurig. Er sprach es frei von der Leber weg. So, wie er gerade vornweg rennt und die Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) viel Licht sehen lässt.

Nach 72 olympischen Medaillen dreimal in Folge ohne Plakette

Um das Eisschnelllaufen hierzulande ist es mau geworden. In den 1990er- und 2000er-Jahren liefen vor allem die Frauen um Gunda Niemann-Stirnemann, Claudia Pechstein, Anni Friesinger oder Stephanie Beckert verlässlich zu olympischen Meriten. Nach 72 Olympia-Medaillen blieben die Deutschen bei den letzten drei Winterspielen nun ohne Plakette. Bei Einzelstrecken-Weltmeisterschaften gab es bis zur letzten Bronzenen durch Patrick Beckert 2020 dann und wann noch Plätze unter den ersten dreien. Der Langstreckenspezialist vom ESC Erfurt hat diese Saison verletzungsbedingt abbrechen müssen. Mit dem Erfurter Sprinter Moritz Klein schaffte es als Zehnter in diesem Winter immerhin ein Sportler in der Weltcup-Gesamtwertung (abgesehen von Massenstart und Teamrennen) unter die Top Ten.

„Es war klar, dass es keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung werden würde“, meinte Matthias Große am Rande der Deutschen Meisterschaft. Seit Herbst 2020 führt der Berliner Unternehmer den Verband der Eisschnellläufer als Präsident. Nach Jahren an der Seite von Claudia Pechstein kennt er lange die Sorgen, sieht aber auch neue Hoffnung.

Moritz Klein nährt sie mit seiner Entwicklung hin unter die besten Männer der Welt. Finn Sonnekalb ist einer, der diese im Schatten ins Eis ritzt. Mit zwölf an der Seite von Trainer Dieter Jander fiel er bereits auf. Drei Jahre später nun rennt er nicht nur im Land voran. In seinem Jahrgang ist er der Schnellste weltweit. Das spricht auch für den Standort.

Erfurt – ein gutes Pflaster und eine wichtige Säule im Eissport

Erfurt ist in Großes Augen „immer ein gutes Pflaster“ gewesen, lobte der 55-Jährige die Ausrichter – und mithin die Arbeit beim ESC. Thüringen mit seinen Top-Bedingungen ist eine Säule neben den Hochburgen in Berlin und Inzell. Das zeigten die nationalen Titelkämpfe, die im Paket mit dem Deutschland-Pokal der Junioren ausgetragen wurden. Die drei DM-Tage spiegelten auch das Gesamtbild des Kufen-Sports.

In Erfurt hat Dauerläuferin Claudia Pechstein vor Kurzem ihren 42. nationalen Titel gewonnen. Im Weltcup ist sie ebenfalls mit dabei.
In Erfurt hat Dauerläuferin Claudia Pechstein vor Kurzem ihren 42. nationalen Titel gewonnen. Im Weltcup ist sie ebenfalls mit dabei. © Sascha Fromm

Claudia Pechstein läuft. Und läuft. Und sie läuft voran. Wenige Wochen vor ihrem 51. Geburtstag gewann die Berlinerin in Erfurt über 5000 Meter ihren 42. nationalen Titel. Es nötigt Respekt ab. Es zeigt auf der anderen Seite aber auch, wie groß die Lücke ist, die hinter ihren und den Erfolgen der großen Namen auch aus Erfurt wuchs.

Fehler der vergangenen 15, 20 Jahre lassen sich nicht in zwei Jahren vergessen machen“, nennt es Matthias Große. Was den Lebensgefährten der Berliner Dauerläuferin bei jedem sportlichen Erfolg im Kampf um Entschädigung gegen die internationale Eislauf-Union (ISU) freut, ist zugleich eine der großen Baustellen der DESG. Internationale ist die Konkurrenz, das offenbaren die Ergebnis-Protokolle, den Deutschen enteilt.

Ein Teufelskreis: weniger Erfolge gleich weniger Förderung

Weniger Erfolge bedeutet weniger Förderung. „Gerade dort, wo die Baustellen sind, müsste die Sportförderung eigentlich erst recht greifen“, wünschte sich Große ein umgekehrtes Prinzip. Das Potenzial, das der Eisschnelllauf bietet, ist größer als es scheint. Die Summe der Olympia-Erfolge der Kufen-Asse etwa liegt bis dato über der vom Biathlon als populärste Wintersportart.

Vergleiche meidet Matthias Große. „Wir müssen aber mit dem leben, was wir haben“, erklärte der DESG-Chef. Er denkt trotz Sparflamme nach vorn. Und er zog aus den Titelkämpfen Energie. „Die Männer machen Spaß“, schätzte er eingedenk der Hoffnung machenden Sprinter-Dichte um Klein ein. „Und, wir haben viele Jugendliche auf dem Eis. Wenn auch nicht genügend.“

Die Zukunft hat also im Schatten alter Erfolge begonnen?

Den Schluss legt die Entwicklung eines Moritz Klein als Frontmann nahe. „Er kann 2026 eine Medaille holen“, sieht Große viel Potenzial in dem 22-Jährigen. Er führt das DESG-Aufgebot im vorletzten Weltcup am Wochenende in Polen an.

Eine spannende Frage könnte bei den nächsten Winterspielen in Italien sein, wo Finn Sonnekalb dann steht. Geht es glatt und nach dem Alter, läuft der dann mit 19 die letzte Junioren-WM. So wie er in Inzell am Wochenende seine erste erlebt.

Dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, deuten die Ergebnisse des Junioren-Weltcups vor wenigen Tagen an. Platz 13 und 16 wirken mittelprächtig. Auf den zweiten Blick lassen sie aufhorchen. Über 1000 und 500 Meter ist er der Schnellste in seinem Jahrgang.

Lernen, behutsam reifen lassen, die Fehler ausmerzen. Daran arbeitet Heim-Trainer Harald Harnisch mit ihm innerhalb der 14-köpfigen Junioren-Gruppe. Deren Stärke läge in der Breite, sagte er und denkt, dass die Erfurterinnen Sophie Adeberg und Melissa Schäfer bei der JWM die guten Weltcup-Ergebnisse verbessern werden. Im Teamsprint sind sie mit Josephine Schlörb auf Anhieb auf Rang vier gelaufen.

„Sich mit den Junioren der Weltspitze zu messen ist gut. Aber wir sehen, die sind pfeilschnell“, weiß Harnisch um das Spannungsfeld, in dem der Kufen-Sport um Anschluss kämpft. Oder, anders gesagt: „Wir müssen, wir wollen, wir machen. Aber wir müssen Geduld haben.“