Berlin. Die Langzeit-Doku “Second Move Kills“ auf RTL+ hat Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn über fünf Jahre begleitet. Lohnt sich das Ansehen?

In seiner ersten Fraktionssitzung, die er 2002 als junger, just gewählter Bundestagsabgeordneter erlebte, lernte Jens Spahn eine Lektion fürs Leben: Die Sitzung begann unter Vorsitz von Friedrich Merz, dann übernahm, nach einer Kampfabstimmung, Angela Merkel, erinnert er sich 20 Jahre später, bei "Second Move Kills". "Am Ende saß er neben mir, einem Neuling."

So schnell kann man wieder fallen. Eine politische Karriere lässt sich nicht planen, hatte er dabei gelernt. Und obwohl der britische "Guardian" in ihm, der „Nachwuchshoffnung der CDU“, einmal sogar schon den kommenden Kanzler erkannte, zuckt er bloß die Schultern: "Es gab Momente, da dachte ich, ich wäre schon am allerdransten, irgendwie doch noch was zu werden." Und dann war’s doch wieder nichts.

In solchen Augenblicken kann man Jens Spahn fast schon mögen, für seine aufblitzende Selbstironie. Oder sogar loben, für die unverblümte Offenheit, mit der er Filmemacher Aljoscha Pause in sein Leben hineinlässt – in der Langzeit-Dokumentation "Second Move Kills", deren neun Folgen a 75 Minuten als RTL+-Original ab heute online zu sehen sind.

Doku über Jens Spahn: Durch alle Höhen und Tiefen

Fünf Jahre lang durfte der Bonner Filmemacher, bisher vor allem für Fußballer-Porträts bekannt, den CDU-Politiker überallhin begleiten – zu Krisensitzungen, bei Wahlkämpfen und TV-Auftritten, im Auto oder im Flieger, durch Höhen und Tiefen. Beim Start der Dreharbeiten, im Sommer 2017, wusste noch keiner, dass die Reise 2022 auf der Oppositionsbank enden würde.

Meistens sieht man Jens Spahn sowieso bei der Arbeit – lieber ohne Schlips, oft nur im Hemd. Außer bei den insgesamt 27 Interviews, bei denen er bereitwillig Rede und Antwort steht.

Private Seiten zieht die Doku auch

So maßlos die Länge des Films mit elf Stunden auch scheinen mag: "Second Move Kills" ist eine klassische politische Dokumentation, aufwändig gemacht mit vielen schönen, stillen Berlin-Ansichten. Sorgsam recherchiert auch, und gespickt mit Kommentaren von Politiker-Kollegen sowie erfahrenen -Beobachtern. Auch Daniel Funke sagt hin und wieder mal was, zur Verteidigung seines Lebenspartners.

Schon in der ersten Folge zeigt sich Jens Spahn aber auch halbwegs privat. An Orten, wo er ursprünglich herkommt und die ihn geprägt haben: Das elterliche Backsteinhaus in Ottenstein im nördlichen Westmünsterland. Die Kirche St. Georg, "wie mein zweiter Vorname", in der er mit 13 als Messdiener erste Erfahrung mit einer Art Bühne sammelte. Oder das Gymnasium in Ahaus: Beim Abi gefragt nach seinem Berufswunsch, hatte er schon da prompt geantwortet: Bundeskanzler, was sonst?

Wie brennend dieser Wunsch wohl heute noch war? Wie ein Running-Gag zieht sich die Kanzlerfrage durch die Doku, oder auch: wie ein Ohrwurm, der sich in die Köpfe bohrt. Nie zuvor jedenfalls wurde einem einzelnen deutschen Politiker so viel an medialem Platz eingeräumt. Selbst Angela Merkel hatte RTL mit nur einem vierteiligen Porträt verabschiedet, nach 17 Jahren Kanzlerinnenschaft. Und auch der NDR hatte 2021 "Kevin Kühnert und die SPD" mit nur sechs halbstündigen Folgen bei seinem Einzug in den Bundestag begleitet.

Mit "Schlüsselmomente seiner bisherigen Karriere" kann Jens Spahn den langen Film locker füllen, schließlich ist er mit 42 Jahren gemeinhin als Strippenzieher bekannt und auf der politischen Karriereleiter schon ziemlich weit hochgeklettert: Unter Wolfgang Schäuble, der ihn förderte, war er von 2015 bis 2018 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, also dessen Stellvertreter. Danach drei Jahre lang Pandemie-Bundesgesundheitsminister in der Großen Koalition.

Doku zeigt: Jens Spahn provoziert gerne

Der Titel "Second Move Kills" ist ein Zitat, von ihm geprägt in seiner Zeit als Gesundheitsminister, als er glaubte, ein zweiter Move bei bereits bekannten Problemlagen würde ihn politisch killen – so zum Beispiel beim holprigen Start der Impfkampagne. Oder etwa zeitgleich beim Kauf einer denkmalgeschützten Villa in Berlin-Dahlem, der wegen des Preises von vier Millionen Euro ähnlich extreme Erregungswellen schlug.

Immer wieder "viel zu verzeihen" hätte sich Jens Spahn aber auch bei seine überspitzen Tweets, mit denen er die Öffentlichkeit gegen sich aufbrachte – in der Flüchtlingsdebatte ebenso wie in dem Hipster-Streit zu englischsprechenden Kellnern. "Der Junge nutzt jede Gelegenheit, um sich zu profilieren", kritisierte denn auch Gerhart Baum, Elder Statesman der FDP, Spahns Lust an der gezielten Provokation.

Viele Partei-Freunde, vor allem aber Spahn-Gegner wie Kevin Kühnert oder Annalena Baerbock schließen sich dieser Kritik an. Selbst Dietmar Bartsch von der Linken moniert Spahns oft nur provozierende Thesen. Hinter den Kulissen aber duzen sie einander, "trotz aller politischen Differenzen".

Jens Spahn ficht diese Kritik wenig an. "An entscheidenden Stellen musst du in die Schlacht ziehen und kämpfen", erklärt er entschlossen. Und wenn politisch gar nichts mehr gehen sollte, dann würde er auch "notfalls in Wonder Beach, Australien, kellnern."

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.