Berlin. Zehn Wochen bis zum ersten Termin: Eine Studie zeigt, wie schlecht derzeit die Behandlungssituation für Menschen mit Depressionen ist

Depressionen gehören zu den häufigsten und am meisten unterschätzten Erkrankungen. Mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen – Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder. Die Corona-Pandemie hat die Situation verschärft. Eine neue Studie offenbart nun, wie schlecht aus Sicht der Betroffenen die Behandlungssituation ist.

Depressionen: Betroffene müssen wochenlange auf Termine warten

An Depressionen erkrankte Frauen und Männer müssen im Schnitt zehn Wochen auf ein Erstgespräch bei einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten warten. Durchschnittlich fünf Therapeutinnen oder Therapeuten müssen sie kontaktieren, bis sie einen Termin bekommen.

Das ist Ergebnis des aktuellen Deutschland-Barometers Depression. Die Studie ist am Dienstag (8. November) in Berlin vorgestellt worden ist. Erstellt wurde sie von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Befragt wurden im September mehr als 5000 Personen im Alter von 18 bis 69 Jahren.

„Bei einer so leidvollen Erkrankung wie der Depression, die zudem mit hoher Suizidgefährdung einhergeht, sind so lange Wartezeiten nicht akzeptabel“, sagt der Stiftungsvorsitzende, Professor Ulrich Hegerl. Denn das Warten auf den Ersttermin sei nur der Anfang. In der Befragung hatten Betroffene zudem von wochenlangen Wartezeiten berichtet, ehe nach dem Erstgespräch eine Behandlung beginnen konnte.

Nach Angaben der Bundes-Psychotherapeutenkammer müssen in Deutschland viele Patienten bis zu sechs Monate auf einen Therapieplatz warten. Es fehlten hierzulande mehr als 1600 Psychotherapeuten. Lesen Sie auch: Das gilt jetzt bei der Psychotherapie-Ausbildung

Depressionen: Wann Betroffene Hilfe suchen

Laut Studie dauert es über alle befragten Betroffenen hinweg durchschnittlich 20 Monate, bis sich Menschen mit Depression Hilfe suchen. Dabei gibt es große Unterschiede: Ein Drittel aller Betroffenen sucht sich sofort Hilfe, bei 65 Prozent hat es länger gedauert – im Schnitt 30 Monate.

Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.
Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. © Stiftung Deutsche Depressionshilfe | Stiftung Deutsche Depressionshilfe

„Die Depression ist eine oft auch lebensbedrohliche Erkrankung. Dass ein großer Teil der Betroffenen Monate oder sogar Jahre braucht, um sich Hilfe zu suchen, ist besorgniserregend“ sagt Ulrich Hegerl. Gründe dafür seien die für eine Depression typische Hoffnungs- und Antriebslosigkeit, aber auch Versorgungsengpässe und die immer noch bestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen.

Antidepressiva und Psychotherapie – Welche Behandlung hilft?

Gemäß Versorgungsleitlinie sind Medikamente und/oder Psychotherapie die wichtigsten Säulen der Behandlung. Von den Befragten, die aktuell erkrankt sind, bekommen 62 Prozent Medikamente und 48 Prozent Psychotherapie. 35 Prozent erhalten eine Kombination aus beidem. Dabei erleben die Betroffenen beides als wirksam: Psychotherapie empfinden 85 Prozent der befragten Patienten als hilfreich oder eher hilfreich, bei Medikamenten sind es 80 Prozent.

Antidepressiva wirken laut Stiftung Depressionshilfe auf Ungleichgewichte in den Botenstoffen im Gehirn und führten so bei den meisten Patienten zum Abklingen der Depression. Bei der Einnahme von Antidepressiva dauere es rund zwei Wochen, bis eine erste Besserung spürbar sei. Auch das Risiko von Rückfällen könne durch diese Medikamente deutlich reduziert werden. Auch interessant: Nora Tschirner über Depressionen: Ich hatte den Kontakt zu mir verloren

In einer Psychotherapie werden Depression und Begleiterscheinungen durch Gespräche und Übungen mit einem Psychotherapeuten behandelt. Insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie gilt bei leichter bis mittelschwerer Depression als ein wirksames Behandlungsverfahren. Patienten lernen zum Beispiel, mit belastenden Alltagssituationen anders umzugehen und negative Gedankenmuster zu verändern.

Neben der Behandlung mit Medikamenten und/oder Psychotherapie können ergänzende Methoden wie die Wach- oder die Lichttherapie zum Einsatz kommen. Zudem kann regelmäßige Bewegung die Behandlung unterstützen. Lesen Sie auch: So funktionieren die Sprechstunden der Psychotherapeuten

Online-Therapie – welche Angebote Betroffene unterstützen können

Eine gewisse Entschärfung der Situation versprechen Online-Therapieangebote. Darauf deutet jedenfalls eine Forschungsarbeit der Universität Freiburg hin, für die 83 Einzelstudien mit insgesamt mehr als 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgewertet wurden. Das Ergebnis: Bei leichten bis mittelschweren Depressionen zeigen Online-Therapieangebote wie Computerprogramme oder Smartphone-Apps Wirkung. Die Forscher gehen sogar so weit, zu sagen, dass spezialisierte Computerprogramme bei der Behandlung von Depressionen vergleichbar wirksam sein könnten wie eine klassische Psychotherapie – solange die Patienten dabei nicht alleingelassen werden.

Das Problem in Deutschland: Digitale Gesundheitsangebote bei Depressionen, die zum Teil von der Kasse bezahlt werden, werden laut Studie bisher kaum genutzt. Aktuell wenden den Angaben zufolge nur sieben Prozent oder jeder 15. der an Depressionen erkrankten Menschen Online-Angebote an, jeder vierte (26 Prozent) hatten davon hingegen noch nie gehört.

Homöopathie und Co: Alternative Medizin als Ersatz

Fast jeder zehnte Befragte mit Depressionen nutzt für die Behandlung alternative, wissenschaftlich nicht untersuchte Verfahren wie Homöopathie, Heilsteine oder eine Darmreinigung. Im Schnitt gab er oder sie dafür 227 Euro pro Jahr aus. Als Hauptgrund wird genannt, selbst etwas zur Behandlung beitragen zu wollen (57 Prozent). Aber auch lange Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz oder Zweifel an der Schulmedizin spielen eine Rolle (je 19 Prozent). Lesen Sie auch: Chronisch krank im Job - Reden oder lieber schweigen?

„Es gibt einen großen Markt an Verfahren, die große Versprechen zur Genesung machen und viel Geld kosten“, sagt Hegerl. „Ich kann Patienten nur empfehlen, sich in den Versorgungsleitlinien Depression zu informieren. Dort sind alle Verfahren, die ausreichende wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege haben, aufgeführt.“ Die Behandlung mit diesen Verfahren werde in den allermeisten Fällen von den Krankenkassen getragen.

Depressionen: Hier gibt es Hilfe im Netz und am Telefon

Wissen, einen Selbsttest und Adressen zu Depressionen gibt es im Internet unter www.deutsche-depressionshilfe.de. Ein deutschlandweites Info-Telefon zu Depressionen gibt es unter 0800/33 44 5 33 (kostenfrei). Auf der Webseite https://tool.ifightdepression.com finden Betroffene ein kostenfreies Online-Programm für Menschen mit leichteren Depressionsformen in 15 Sprachen. Dieses Programm ist aber nur mit therapeutischer Begleitung möglich. Darüber hinaus haben Betroffene die Möglichkeit, an moderierten Online-Foren zum Erfahrungsaustausch teilzunehmen. Für Erwachsene unter www.diskussionsforum-depression.de und für junge Menschen ab 14 Jahren unter www.fideo.de. Dazu auch: Psychische Probleme: So finden Sie den richtigen Therapeuten

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.