Usedom. Auf dem Grund von Nord- und Ostsee schlummern Tonnen von Bomben aus den Weltkriegen: Eine Gefahr für Tiere, Bewohner und Touristen.

Sven-Tobias Schlaak kennt die Gefahr am Strand gut. Er lebt in Karlshagen auf Usedom, verdient sein Geld mit Bernstein, dem Schmuckstein aus Millionen Jahre altem Baumharz. Er macht daraus Anhänger, Armbänder, bietet in seiner Werkstatt auch Schleifkurse an.

Wenn große Stürme das Ostseegold aus dem Meer an den Strand spülen, ist er nicht nur auf Usedom unterwegs, sondern auch auf der nahe gelegenen anderen Ostseeinsel Rügen. Nur: Er findet im Spülsaum immer wieder Klumpen, dem Bernstein verblüffend ähnlich, doch hochexplosiv: weißer Phosphor. Dieser war im Zweiten Weltkrieg Bestandteil von Brandbomben. Heute lagert er auf dem Meeresgrund, bis ihn die Wellen ans Ufer befördern – und er sein Unheil anrichten kann.

Nord- und Ostsee: Aufheben kann für Spaziergänger gefährlich werden

„Wer Phosphor versehentlich in die Hosentasche steckt, riskiert üble Hautverbrennungen und Vergiftungen“, warnt Schlaak. Denn Phosphor entzünde sich, je nach Zusammensetzung, sobald es sich auf 20 bis 40 Grad erwärme. Es entstünden dabei 1300 Grad, alles kaum zu löschen. Viele Spaziergänger am Meer wüssten das nicht. Die Warnschilder am Strand? „Eher unauffällig“, meint der Karlshagener.

2022 haben die Bundesbürger ihren Urlaub am liebsten an der Ostsee verbracht. Niemand wolle, so sei sein Eindruck, diese Touristen verschrecken. Bisher werde darum wenig über das Problem geredet, zu wenig. Denn die Chance, auf Phosphor zu stoßen, sei nicht gering: „In einer Saison – die beginnt für uns Bernsteinfischer Anfang November und endet Mitte März – entdecke ich bis zu zehn Phosphorbrocken, der einzelne ist schon mal 3,5 Zentimeter lang.“

Munition: 1,6 Millionen Tonnen liegen in Nord- und Ostsee

Die Phosphorbrocken sind Teil eines bisher nicht gelösten größeren Problems. Nun verspricht die Bundesregierung es anzugehen. 78 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg liegen in Ost- und Nordsee – etwa in der Kieler und der Lübecker Bucht, vor Wangerooge und Spiekeroog, rund um Helgoland und im Mündungsbereich von Elbe, Weser, Jade – insgesamt 1,6 Millionen Tonnen an Munition: Bomben, Granaten, Minen, Patronen, Waffen. Ein damit beladener Güterzug würde von Kiel bis Rom reichen. Dazu kommen chemische Kampfstoffe wie Senfgas.

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In einer Augustnacht im Jahr 1943 habe die britische Luftwaffe zum Beispiel ihre Bomben über dem Nordzipfel von Usedom abgeworfen, um die Heeresversuchsanstalt (HVA) und die Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West zu zerstören, erzählt Schlaak. Dort wurde unter der Leitung von Wernher von Braun an Militärraketen geforscht, es war das größte Rüstungsprojekt der Nationalsozialisten. Die meisten Bomben verfehlten jedoch ihr Ziel, sie landeten ohne zu detonieren im Wasser.

Große Seeminen in Nord- und Ostsee werden heute schon gesprengt. Bei kleinerer Munition wird eine Bergung schwieriger.
Große Seeminen in Nord- und Ostsee werden heute schon gesprengt. Bei kleinerer Munition wird eine Bergung schwieriger. © picture alliance / photothek | Liesa Johannssen

Es ist aber nur ein kleiner Teil der Munition am Meeresgrund. Das Gros kam aus den Waffenarsenalen hinzu, da war der Krieg bereits entschieden. Manches versenkten die Deutschen in den letzten Kriegstagen, damit es nicht den Siegermächten in die Hände fiel. Anderes luden Fischer im Auftrag der Alliierten nach dem Kriegsende ab.

Das kümmerte lange Zeit wenige. In den vergangenen Jahren wurden allenfalls einzelne Granaten oder Bomben aus dem Meer geholt, die beim Bau von Windparks, Pipelines oder anderem im Weg lagen. Jetzt drängt die Zeit.

Gifte könnten über die Nahrung Risiko für Menschen werden

Die Hülsen, Hüllen, Mäntel der Munition und Fässer korrodieren im Salzwasser, nicht nur explosive Chemikalien wie Phosphor treten aus. Vor allem wird der hochgiftige Sprengstoff TNT freigesetzt, der das Erbgut schädigt, zu Krebs führt.

Meeresbiologe Matthias Brenner erforscht am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, wie das Fischen, Muscheln, der Meeresumwelt das Leben schwer macht, und sagt: „In allen Organismen, die sich in der Nähe der Kriegsaltlasten tummeln, finden sich die toxischen Substanzen. Fische leiden dort stärker als andernorts an Krankheiten wie schweren Entzündungen und Tumoren der Leber.“

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Über die Nahrungskette könnten die Gifte auch beim Menschen landen – „von der Müllhalde auf den Teller“, sagt der Forscher. Er esse selbst zwar nach wie vor Fisch, aber es zeige sich, dass es „eine mit der Zeit zunehmende Hintergrundbelastung“ gebe. Vor allem in der westlichen Ostsee, wo Wassertiefe und Strömung geringer seien als in der Nordsee, sodass das Wasser nicht so gut durchmischt werde. Dort wabere schon jetzt eine „regelrechte TNT-Suppe“. Auch andernorts liege übrigens Munition, etwa vor der Küste rund um Italien.

Munition im Meer: Bund will Bergung ab diesem Jahr vorbereiten

Die alte Munition: ein wachsendes Risiko. Die Bergung: kostspielig und kompliziert. Wie die alten Granaten oder Minen systematisch Stück für Stück heraushieven? Lassen sie sich vor Ort verbrennen, unschädlich machen? Bislang fehlte für die große Räumung die Technik.

Deutschland will nun weltweit die erste Plattform errichten, eine Art schwimmende Insel, um diese zu entwickeln. Noch in der zweiten Hälfte dieses Jahres soll es mit dem Bau losgehen, erste Bergungen 2024, spätestens Anfang 2025 geben, vermutlich in der Ostsee. Rund 100 Millionen Euro stellt der Bund dafür als Einstieg zur Verfügung.

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„Das ganze Zeug muss raus aus dem Meer“, sagt Schlaak. Bis es so weit ist, wird es aber noch dauern. Manche sprechen von einer Jahrhundertaufgabe. Darum sollten die Gemeinden an den bei Touristen beliebten Strandabschnitten, an denen immer wieder Phosphor angeschwemmt wird, umgehend große, gut zu sehende Warnschilder aufstellen und auf ihren Internetseiten prominent auf die Risiken hinweisen, meint Schlaak.

Gefahr Phosphor: Worauf Bernsteinsammler achten müssen

Sein Rat für Bernsteinsammler: „Nehmen Sie eine Dose oder ein anderes metallische Gefäß mit an den Strand, füllen Sie etwas Wasser hinein, um ihre gesammelten Steine zu transportieren.

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Zuhause angekommen legen Sie die Steine mit gutem Abstand voneinander auf die Terrasse oder den Balkon.“ Habe sich innerhalb einer Stunde nichts entzündet, sei die Gefahr gebannt.