Berlin. Traumatische Erfahrungen wie Erdbeben können der Psyche schwer zusetzen. Ein Facharzt erklärt, was für die Verarbeitung wichtig ist.

Mit einer Stärke von 7,8 und Zehntausenden Toten zählt das Erdbeben in der Türkei und in Syrien zu den schlimmsten Naturkatastrophen der vergangenen 100 Jahre. Schätzungen gehen zudem von über 100.000 Verletzten aus. Zwei neue Beben verschärfen die Lage zusätzlich. Betroffene berichten, wie sie machtlos dabei zuschauen mussten, wie Hauswände auf ihre Familienmitglieder hinabstürzten und diese starben.

Der stellvertretende Vorsitzende der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie, Helge Höllmer, ist auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit traumabedingten Folgestörungen spezialisiert. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt der klinische Direktor der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, wie sich diese äußern können, was für die Verarbeitung des Erlebten wichtig ist und warum nicht nur Erdbebenopfer, sondern auch Helfer und Angehörige Probleme entwickeln können.

Wann spricht man von einer Traumatisierung?

Helge Höllmer: Für die Diagnostik gibt es hier bei uns bewusst keine Strichliste mit konkreten Ereignissen, damit am Ende niemand durchs Raster fällt. Dennoch muss das Erlebte eine Ausprägung haben, bei der sich ein Großteil der Menschen einig wäre, dass es sich um etwas Extremes oder Schlimmes handelt.

Grundsätzlich wird bei Traumata mit Blick auf zwei Faktoren unterschieden: zum einen zwischen einmaligen und kurz andauernden sowie anhaltenden oder sich wiederholenden Trauma-Ereignissen. Zum anderen zwischen von anderen Menschen verursachten Traumata, wie Vergewaltigung und Krieg, und solchen, die naturbedingt und eher zufällig verursacht worden sind, wie Verkehrsunfälle oder aktuell etwa die schweren Erdbeben.

Welche Folgen können solche Erlebnisse für Betroffene haben?

Höllmer: Wir sprechen bewusst immer von einem potenziellen Trauma, denn ein schlimmes Erlebnis und selbst eine Häufung ebendieser bedeutet nicht immer, dass es am Ende auch zu einer – wir sprechen von – Krankheitsschädigung kommt.

Betroffene können jedoch Traumafolgestörungen entwickeln, Stresserkrankungen, wie die posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen oder auch Angst-, Zwangs- und Suchterkrankungen – manche erkranken chronisch, manche genesen, bei anderen kommt die Krankheit immer mal wieder. Die Verläufe sind sehr unterschiedlich und nicht vorhersehbar.

Dr. Höllmer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg.
Dr. Höllmer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg. © ANNA MARIA LANGER/privat

Den Erdbeben waren die Betroffenen hilflos ausgeliefert. Was bedeutet das für den Verarbeitungsprozess?

Höllmer: Grundsätzlich ist das Risiko, an einer Traumafolgestörung zu erkranken, hier tatsächlich geringer als bei den von Menschen verursachten Traumata. Fühlen wir uns der Gewalttätigkeit eines Menschen ausgeliefert, wird unser so wichtiges Bindungssystem erschüttert.

Studien zeigen, dass nach einmaliger Vergewaltigung etwa 60 Prozent der Opfer erkranken, bei Erdbeben gehen Studien von etwa 10 bis 30 Prozent aus. Hier sind die Menschen mit anderen Themen konfrontiert, müssen Anpassungsprozesse leisten, den unerwarteten Verlust geliebter Personen verarbeiten, jedoch ist klar – für dieses Erdbeben trägt niemand Verantwortung. Das Erlebte ist schicksalhaft.

Das macht es doch nicht immer leichter?

Höllmer: Statistisch schon. Aber natürlich verbergen sich hinter jeder Statistik schlimme Einzelschicksale. Gerade wenn noch Personen vermisst werden, man noch nicht weiß, was mit ihnen geschehen ist, ist das sehr herausfordernd – selbst für Angehörige in der Ferne. Zudem verarbeitet jeder Mensch Erlebtes anders. So können selbst Menschen, die vom Beben nicht direkt betroffen waren, durch den Verlust eines Menschen, durch Bilder, Videos und Erzählungen so belastet sein, dass sie erkranken. Medizinisch sprechen wir dann aber nicht mehr von einer Traumafolgestörung.

Durch die Erdbeben in der Türkei und Syrien kamen Zehntausende ums Leben. Zurück bleiben Menschen mit traumatischen Erinnerungen und zum Teil schlimmen Einzelschicksalen.
Durch die Erdbeben in der Türkei und Syrien kamen Zehntausende ums Leben. Zurück bleiben Menschen mit traumatischen Erinnerungen und zum Teil schlimmen Einzelschicksalen. © AFP | BULENT KILIC

Woran liegt es, dass Menschen mit Erlebtem so unterschiedlich umgehen?

Höllmer: Das liegt zum einen an der Resilienz jedes Einzelnen, also der zum Teil angeborenen, zum Teil durch Prägung oder gezieltes Training geschwächten oder gestärkten psychischen Widerstandsfähigkeit. Es ist erstaunlich, dass es selbst einige wenige Holocaustüberlebende irgendwie geschafft haben, diese fürchterlichen Erlebnisse ohne Überforderung anders zu bewerten und nicht zu erkranken.

Zum anderen hängt die Verarbeitung aber auch vom inneren Zustand ab, in dem sich Betroffene gerade befinden. Ist man ohnehin ausgelaugt, hat schlecht geschlafen oder Ähnliches, werden einen schlimme Ereignisse stärker berühren. Deswegen sind auch anhaltende oder sich wiederholende Trauma-Ereignisse belastender. Aber auch Alter und Geschlecht können je nach Thema eine Rolle spielen.

Was kann helfen, traumatische Erlebnisse besser zu verarbeiten?

Höllmer: Reden! Sich mitteilen und austauschen. Soziale Unterstützung ist extrem wichtig – körperliche und emotionale Wärme. Das gilt auch für die Helferinnen und Helfer, die vor Ort waren. Zudem das Gefühl zu bekommen, jetzt bin ich in Sicherheit – besonders bitter natürlich, wenn dieses durch Nachbeben erneut erschüttert wird.

Entscheidend ist aber auch, jedem seine negativen Gedanken und Gefühle zuzugestehen, Betroffenen zu erklären, dass dies in Ordnung und leider auch normal ist – wertfrei Verständnis zu zeigen und da zu sein. Das ist der stärkste Genesungsfaktor. Mitunter können Menschen dann sogar ohne professionelle Hilfe mit dem Erlebten zurechtkommen.

Wichtig auch: Jedes Trauma bringt Menschen eine gewisse Phase lang an die Grenze der Belastbarkeit – das stellt keiner infrage und das ist auch noch keine Krankheit.

Wann ist es angebracht, sich professionelle Unterstützung zu suchen?

Höllmer: Sobald man das Gefühl hat, man kommt selbst nicht mehr zurecht. Oder einem das Umfeld dies signalisiert. Wichtig ist es, andere an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. Das senkt die Hemmschwelle, sich tatsächlich professionelle Hilfe zu suchen, bevor die Kraft dafür vielleicht irgendwann nicht mehr reicht. Klar ist Selbstwirksamkeit etwas sehr Mächtiges, Unterstützung von außen zu brauchen jedoch kein Zeichen von Schwäche.