Berlin. Kritiker sprechen von einem „würdelosem Vorgang“: Berlin will als erste deutsche Großstadt die Obdachlosen zählen. Es gibt Widerstand.

Es ist eine Premiere: Erstmals überhaupt hat eine deutsche Großstadt systematisch die Zahl ihrer Obdachlosen erfasst. Mehr als 3700 freiwillige Helfer zählten in Berlin am Mittwoch zwischen 22 Uhr und 1 Uhr Menschen, die auf der Straße, unter der Bücke, in Zelten oder ähnlichen Behausungen leben.

Die Stadt nennt die Aktion „Nacht der Solidarität“. Das Ziel der Aktion ist es, Hilfsangebote in Zukunft besser an das Leben der Obdachlosen anzupassen. An dem Vorhaben regt sich allerdings auch Kritik.

Die „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ kritisiert die Aktion und fordert „Wohnungen statt Zählungen“, berichtet der „Tagesspiegel“. Gezählt zu werden sei ein würdeloser Vorgang und würde die Situation nicht grundlegend verändern.

Obdachlose in Berlin: Zählung soll Hilfsangebote verbessern

„Die Zählung hat eine Alibi-Funktion, Tiere werden gezählt – Menschen muss geholfen werden“, schreibt die Selbstvertretung in einem Aufruf zu einer Kundgebung.

Die Sozialsenatorin der Stadt Berlin, Elke Breitenbach, verteidigte in der Zeitung hingegen die Aktion: „Wir brauchen endlich verlässliche Zahlen, wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben.“

Die Privatsphäre der Obdachlosen werde respektiert, die Befragung sei freiwillig, die Orte würden anonym bleiben. Die Zählung der Obdachlosen sie die Grundlage einer Wohnungsnotfallstatistik, die Wohnungsloseninitiativen seit vielen Jahren fordern würden, so die Sozialsenatorin.

Seit Jahrzehnten gibt es für die Hauptstadt nur grobe Schätzungen über das Ausmaß von Obdachlosigkeit. Die Zahlen liegen zwischen 6000 und 10.000 Menschen. Wie verlässlich die Zahlen sein werden, steht noch nicht fest. Bekanntgegeben werden sollen sie am 7. Februar.

Immer mehr sind auch Singles und Familien von Obdachlosigkeit betroffen. Im Dezember 2019 haben wir eine junge Mutter getroffen, die mit ihrer Tochter in einem Frauenhaus untergekommen war, weil sie keine Wohnung hatte. Stefanie Gärtner, so haben wir die Frau in der Reportage zum Schutz ihrer Person genannt, erzählt wie hart das Leben auf der Straße mit einem Baby ist.

Obdachlose in Deutschland – Mehr zum Thema

In der Bundesrepublik ist die Zahl der Obdachlosen insgesamt auf rund 678.000 Menschen gestiegen. Experten warnen vor einem weiteren Anstieg. Obdachlose haben auf der Straße wenige Möglichkeiten für eine ausgedehnte Körperpflege, anders in Hamburg: Dort steht seit kurzem der erste Duschbus für Wohnungslose. Eine anderes Projekt für Menschen, die auf der Straße leben, testet derzeit die Stadt Ulm: Schlafkapseln sollen Obdachlose dort vor dem Erfrieren retten. (les/dpa)