Peking. Während in Peking allmählich das öffentliche Leben zurückkehrt, steht Chinas wahrer Stresstest in der Corona-Pandemie noch aus.

In Chinas Hauptstadt bilden Leid und Normalität ein geradezu surreales Nebeneinander. In den Pekinger Sportbars sitzen die Feierwütigen bereits wieder tief in die Nacht vor Fassbier und Tequila-Shots. Doch gleichzeitig reihen sich die Leichenwägen vor den Bestattungsinstituten der Stadt zu langen Trauerschlangen. Und aus den Krematorien steigt der Rauch der Verbrannten rund um die Uhr in den bitterkalten Dezemberhimmel.

In nur wenigen Wochen hat das bevölkerungsreichste Land der Welt eine pandemische Kehrtwende hingelegt, die extremer nicht sein könnte: von einer drakonischen „Null Covid“-Paranoia hin zur schnellstmöglichen Durchseuchung. Das Virus, das einst als tödliche Gefahr gebrandmarkt wurde, ist nun in den Staatsmedien nichts mehr als eine gewöhnliche Grippe.

Trotz hoher Zahlen: Öffentliches Leben kehrt zurück

Ausgerechnet die Hauptstadt wurde als erste von Chinas flächendeckender Omikron-Welle getroffen. In Peking ließ sich beobachten, wie die Kliniken überflutet wurden, sich selbst das Krankenhauspersonal zuhauf infizierten und Fieber-Medikamente auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Nun jedoch kehrt das öffentliche Leben allmählich wieder zurück: Tag für Tag bevölkert die wachsende Anzahl an Genesenen nun wieder die Restaurants, Shopping-Malls und U-Bahnen.

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Auch wenn die Normalität zumindest am Horizont sichtbar wird, bleiben die mentalen Narben, die zweieinhalb Jahre „Null Covid“ hinterlassen haben, weiter bestehen. Nicht wenige Chinesen fühlen sich mit ihrem Schmerz alleingelassen, dass sie die vom Staat erzwungenen Opfer umsonst erbracht haben: Monatelang waren Millionen Menschen in ihre Wohnungen eingesperrt, haben ihre Arbeit verloren und konnten ihre Familienmitglieder nicht besuchen – nur, um scheinbar willkürlich von einem Tag auf den anderen erzählt zu bekommen, dass das „gefährliche Virus“ nun doch wie eine „gewöhnliche Grippe“ sei.

Die Regierung ist den 1,4 Milliarden Chinesen etliche Antworten schuldigt. Doch sie entschuldigt sich weder für ihre hastige Kehrtwende, noch liefert sie eine schlüssige Erklärung ab. Das Volk muss stillschweigend akzeptieren und folgen.

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Chinesisches Volk stark psychisch belastet

Es ist natürlich kein Zufall, dass der derzeit meist geteilte Artikel auf der Online-Plattform „Weibo“ die psychische Verfassung der Chinesen unter die Lupe nimmt. Darin heißt es, dass es noch bis zu 20 Jahren dauern wird, ehe sich die Bevölkerung von den induzierten Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen erholen könne.

Für Außenstehende ist es kaum vorstellbar, welches Ohnmachtsgefühl die 1,4 Milliarden Chinesen zuletzt erlebt haben: sich schlafen zu legen, ohne zu wissen, ob am nächsten Morgen das eigene Wohnhaus von Leuten in Seuchenschutzanzügen abgeriegelt ist – oder schlimmer noch, der Krankenwagen einen ins Quarantänelager abschleppt.

Nun sind die Sorgen andere: Dass das Gesundheitssystem vom grassierenden Corona-Tsunami ausgeschaltet wird. In Shanghai haben die Behörden nun die Schüler der Stadt dazu angewiesen, auf Online-Unterricht auszuweichen.

Denn die Wirtschaftsmetropole steht gerade auf dem Höhepunkt des rasanten Infektionsausbruchs: Derzeit liegen die meisten Bewohner mit Fieber im Bett, die idyllischen Gassen der einstigen französischen Konzession muten derzeit wie eine Geisterstadt an.

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Der wahre Stresstest wird jedoch in den Hinterlandprovinzen erfolgen: Dort, wo das Gesundheitssystem rudimentär entwickelt und das nächste moderne Krankenhaus oft mehrere Autostunden entfernt ist.

China: Pandemische Jojo-Politik auf dem Rücken anderer

Doch es scheint, als habe sich die chinesische Regierung für das Motto „kurz, aber schmerzlos“ entschieden. Gesundheitsexperte Yanzhong Huang vom New Yorker „Council on Foreign Relations, schreibt bereits von einer „neuen Strategie“: Anstatt die Infektionskurve flach zu halten, scheint die chinesische Regierung eine schnellstmögliche Infizierung der Bevölkerung erzielen zu wollen, um die ersehnte Herdenimmunität zu erreichen.

Tatsächlich haben bereits mehrere Lokalregierungen die Bevölkerung dazu aufgefordert, trotz milder Covid-Symptome wie gewohnt zur Arbeit zu erscheinen. Die Parteizeitung „Global Times“ schrieb euphemistisch von einer „besseren Balance zwischen epidemischer Vorbeugung und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung“.

Ausgerechnet im zentralchinesischen Zhengzhou lässt sich beobachten, wie sehr die pandemische Jojo-Politik ganz offen auf dem Rücken der Arbeitsmigranten ausgetragen wird. In der überdimensionalen „Iphone-City“, wo rund 200.000 Fabrikarbeiter für den Apple-Zulieferer „Foxconn“ am Fließband schuften, hat sich das Corona-Virus bereits rasch ausgebreitet – kein Wunder, hausen die Arbeiter doch zu acht in ihren spartanischen Zimmern.

Offiziell müssen sich die Infizierten isolieren. Doch tatsächlich raten die Vorgesetzten dazu, sich trotz Symptomen schlicht nicht testen zu lassen. Und so müssen viele von ihnen trotz Fieber weiterhin ihre elf-Stunden-Schichten im Akkord absolvieren – all das, um den taumelnden Wirtschaftsmotor möglichst rasch wieder anzukurbeln.

China: Strategiewechsel bei Infektionserfassung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits klargestellt, dass das globale Ende der Pandemie durch die massiven Corona-Infektionsausbrüche in China erstmal in weite Ferne gerückt ist. „Die Frage ist, ob man es tatsächlich post-pandemisch nennen kann, wenn ein so bedeutender Teil der Welt tatsächlich gerade in seine zweite Welle eintritt“, sagte die niederländische Virologin Marion Koopmans der Nachrichtenagentur Reuters. Die Volksrepublik sei derzeit wie eine Joker-Karte: Niemand könne einschätzen, welche Überraschung die Durchseuchung von 1,4 Milliarden Menschen bereithalten werde.

Im schlimmsten Fall, davon ist auszugehen, sind in China nach der Omikron-Welle über eine Million Tote zu beklagen. Die Regierung hat sich allerdings dafür entschieden, sich mit den harten Realitäten nicht auseinandersetzen zu wollen. Denn just, als die Corona-Zahlen explodierten, änderten die Behörden die Kriterien, welche einen „Covid-Tod“ ausmachen: Der verantwortliche Arzt muss ganz eindeutig belegen können, dass tatsächlich das Virus den finalen Tod ausgelöst hat, damit ein Opfer in den Statistiken auftaucht.

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So kommt es zu geradezu absurden Zahlen, die jedoch weiterhin stur von den Moderatoren der Fernsehnachrichten allabendlich verlesen werden: Am Mittwoch vermeldete die nationale Gesundheitskommission offiziell nur etwas mehr als 3.000 Infektionen und keine weiteren Corona-Toten. Die Regierungsstatistiken sind nicht nur eine offensichtliche Farce, sondern aus gesundheitspolitischer Sicht höchst unverantwortlich: Sie vermitteln die Botschaft, dass das Virus weitaus harmloser ist, als den Tatsachen entspricht.

Doch das tragische Schicksal von Chu Lanlan mahnt die Öffentlichkeit daran, dass das Coronavirus eben doch keine gewöhnliche Erkältung ist. Die Opernsängerin ist mit gerade einmal 40 Jahren an den Folgen ihrer Infektion verstorben. „Wir müssen von der harten Realität erzogen werden“, kommentiert ein trauernder User.