Berlin. Aggressivität, pöbelnde Impfgegner und tägliche Drohmails: Die Situation auf Corona-Stationen spitzt sich zu. So ist die aktuelle Lage.

  • Die Arbeitsbelastung für das Personal auf Corona-Stationen nimmt drastisch zu
  • Konflikte mit Corona-Leugnern und Impfgegnern belasten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusätzlich
  • Nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie liegen bei vielen die Nerven blank

Intensivmedizin ist nichts für zarte Seelen. Wer hier arbeitet, ist einiges gewohnt. Doch was jetzt gerade passiert, sprengt alles: 50.000 Corona-Neuinfektionen pro Tag, im Schnitt 500 davon mit lebensbedrohlichem Verlauf – das können die Kliniken nicht mehr lange stemmen. Der Druck jedoch kommt nicht nur durch die dramatische Pandemielage.

Die Aggressivität wächst. Ärztinnen und Ärzte berichten von täglichen Drohmails, Pflegerinnen und Pfleger von pöbelnden Impfgegnern am Krankenbett. Sie berichten aber auch über den Frust angesichts Tausender ungeimpfter Patienten, die die Kliniken füllen. Ist das medizinische Personal überhaupt noch bereit, Ungeimpfte genauso gut zu behandeln wie Geimpfte?

Corona-Pandemie: Psychische Belastung für Klinik-Personal

Anruf bei Susanne Johna, Ärztin und Vorsitzende der Gewerkschaft Marburger Bund, in der vor allem Klinikärzte organisiert sind. Das Personal auf den Intensivstationen kenne psychisch belastende Situationen, sagt die Internistin. „Was wir jetzt erleben, hat aber eine neue Dimension: Nach fast zwei Pandemiejahren liegen bei vielen die Nerven blank.“

Sicher, im Sommer habe es mal eine kurze Verschnaufpause gegeben. „Schon damals haben wir gewarnt, dass die Lage im Herbst wieder dramatisch werden kann, wenn zu wenige geimpft sind. Genauso ist es gekommen. Das ist bitter.“

Corona: Ältere Menschen erkranken, weil ihre Kinder gegen eine Impfung waren

Der Ärger über Millionen Ungeimpfte ist das eine. Das andere ist, was Ärzte und Pfleger von ungeimpften Patienten zu hören kriegen: „Es ist schon belastend zu erleben, was manche Impfgegner anrichten können“, berichtet die Ärztin. „Wir hören immer wieder von alten Menschen, die eine schwere Corona-Infektion überlebt haben, dass ihre Kinder gegen eine Impfung waren.“

Es gebe auch Impfgegner, die mit lebensgefährlichen Symptomen in den Kliniken lägen und ihre Entscheidung bitter bereuten. Aber: Es gebe eben auch ungeimpfte Corona-Patienten mit schwerer Lungenentzündung, die immer noch behaupteten, Corona sei eine Lüge. „Es ist kaum zu fassen, wie uneinsichtig manche Menschen sind und für wie unverwundbar sie sich halten.“

Corona-Behandlung: Diskussionen kosten wichtige Zeit

Für das Klinikpersonal sei es sehr frustrierend, in der knappen Zeit auch noch Diskussionen mit uneinsichtigen Patienten führen zu müssen. „Es zehrt an den Nerven, wenn etablierten Therapieverfahren mit Misstrauen begegnet wird.“ Das bestätigt auch Teresa Deffner, Psychologin an der Uniklinik Jena. Problematisch sei es, „wenn Covid-Patienten nicht verstehen, wie schlecht es ihnen eigentlich geht, und dann notwendige Behandlungsmaßnahmen nicht umsetzen – wie zum Beispiel die Lagerungstherapie“.

Der Druck ist hoch – und die Toleranz nimmt ab: „Es zeigen sich viel mehr Emotionen und gesellschaftliche Konflikte direkt auf der Intensivstation“, sagt Deffner, die sich als Präsidiumsmitglied der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (Divi) gut auskennt mit der Stimmung auf den Intensivstationen im Land.

Manche Ärzte bereits unter Polizeischutz

„In den zurückliegenden Pandemiewellen war die Situation eine andere. Es war ein pandemischer Katastrophenzustand mit wenig Schutz vor dem Virus. Jetzt gibt es Impfungen gegen Covid-19, und trotzdem sind die Intensivstationen voll von größtenteils ungeimpften Patienten.“ Patienten also, die nicht dort liegen müssten – und die den anderen, die auf ihre neue Hüfte warten oder ihr neues Kniegelenk, den Platz wegnehmen. Weil viele Kliniken nicht lebensnotwendige Operationen längst wieder absagen.

Aber, das ist Ärztevertreterin Johna wichtig: Bei der Behandlung dürfe all das keine Rolle spielen. „Ungeimpfte Patienten werden genauso behandelt wie Geimpfte. Dazu verpflichtet uns unser Berufsethos.“ Auf der Intensivstation sehe man erst mal nur den Schwerkranken, der um sein Leben ringe. Aber: „Bei leichteren Fällen dagegen kann es durchaus sein, dass man auch mal denkt: ‚Das hätten Sie durch eine Impfung vermeiden können.‘“

Fehlende Einsicht ist allerdings noch harmlos gegen das, was inzwischen ebenfalls zum Alltag gehört: Ärztinnen und Ärzte berichten immer öfter von Anfeindungen und Drohungen. Besonders diejenigen, die in der Öffentlichkeit für das Impfen werben, und viele, die selbst impfen, erleben oft direkte Bedrohungen. „Vor allem die verbale Gewalt hat an Häufigkeit und Schärfe zugenommen“, sagt Gewerkschaftschefin Johna. „Ich selbst habe bereits viele Drohmails bekommen. Ich bin gezwungen, praktisch täglich auf meinen Accounts bei Twitter und Facebook Personen zu sperren.“

Sie ist nicht die Einzige: Der Präsident der Ärztekammer Berlin, Peter Bobbert, berichtet von nie gekannten Bedrohungsszenarien. Ihn erreichten Hilferufe von Ärzten, weil sie Drohbriefe erhielten oder ihre Adressen in den sozialen Netzwerken gepostet würden, zusammen mit Ankündigungen wie „Wir kriegen dich“. Zum Teil bekommen exponierte Ärzte bereits Polizeischutz.

Gewerkschaften warnen vor wachsender Aggressivität

Doch nicht nur Ärzte erleben die wachsende Aggressivität: Grit Genster, Verdi-Expertin für das Gesundheitswesen, beobachtet, „dass Patientinnen und Patienten aggressiver und ungehaltener reagieren, als wir das bisher kannten.“ Masken tragen, Abstände einhalten, Tests machen – all das könne zu Auseinandersetzungen führen. Es komme dann oft zu Konflikten zwischen Pflegekräften und Patienten oder Angehörigen, die bestimmte Maßnahmen ablehnten.

„Mein Eindruck ist“, sagt Genster, „dass die Aggressivität mit der Dauer der Pandemie weiter zunehmen wird.“ Falls die Infektionszahlen weiter steigen und die Maßnahmen in den Kliniken bald strenger werden sollten, werde es schon deshalb mehr Ärger geben, weil Angehörige ihre erkrankten Familienmitglieder nicht mehr ohne Weiteres besuchen könnten. „Pflegekräfte sind diesen Konflikten stärker ausgesetzt, da sie auf den Stationen im Alltag präsenter sind als beispielsweise ärztliches Personal. Daher entlädt es sich am Pflegepersonal besonders viel.“

Die Gewerkschafterin fordert die Arbeitgeber auf, sich deutlicher vor das Personal zu stellen: „Die Arbeitgeber müssen verstärkt dafür sorgen, dass der Schutz der Beschäftigten gewährleistet ist und schnell im Team unterstützt werden kann.“ Dazu müsse die Personalausstattung angemessen sein.

Entlastung aber ist vorerst nicht in Sicht: „Ich habe mir noch nie in der Pandemie so große Sorgen gemacht wie jetzt“, sagt Internistin Johna. Die Pandemie explodiert – in der Politik aber herrsche ein Machtvakuum zwischen alter und künftiger Regierung, Bund und Ländern.

„Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen wird in den kommenden Wochen so weit steigen, dass mancherorts eine überregionale, vielleicht sogar deutschlandweite Verlegung nötig sein wird, um in besonders betroffenen Regionen rechtzeitig für Entlastung zu sorgen“, warnt Johna. Man dürfe nicht vergessen: „Die Patienten, die wir jetzt aufnehmen, sind nicht in sieben Tagen wieder weg.“ Heißt: Das, was gerade passiert, dürfte erst der Anfang sein.