Berlin. Webseiten von Impfgegnern listen Namen und Kommentare von Politikern, Lehrern und Ärzten. Fachleute warnen vor „geistiger Brandstiftung“.

Es beginnt harmlos. Die Webseite sei ein „privates Dokumentationszentrum für Corona-Unrecht“, betrieben von „besorgten Archivaren“. Doch dann verschärfen die Autoren schnell den Ton ihrer Anklage, wähnen sich im Kampf gegen den „Faschismus“, sprechen von „Tätern“. Gemeint sind Menschen wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach, wie Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Aber auch Ärztinnen, Schulleiter, Journalistinnen, Klinikbetreiber stehen auf der Online-Liste.

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Die Internetseite heißt „Ich habe mitgemacht“ und listet Namen und Einrichtungen und die Äußerungen, die in der Szene der radikalen Impfgegner für Empörung sorgen. Mehr als 1300 Namen sind es bisher. Politiker, die Ungeimpfte kritisieren. Virologinnen, die zum Tragen der Maske aufrufen. Künstler, die Corona-Schutzmaßnahmen verteidigen.

Die Macher nennen ihr „Archiv“ ein „zivilgesellschaftliches Medienprojekt“. Doch für Fachleute ist die Webseite gefährlich. Es ist ein Internet-Pranger, der Menschen markiert. Und es sei Teil einer rechten und verschwörungsideologischen Strategie im Kampf gegen den politischen Gegner.

Die Online-Pranger sollen „andere Menschen durch Einschüchterung mundtot machen“

Diese öffentlichen Listen sollen „Menschen zum Schweigen bringen“, sagt die Sozialpsychologin und Geschäftsführerin vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), Pia Lamberty. „Es wird permanent geistige Brandstiftung betrieben.“ Die Online-Pranger sollen „andere Menschen durch Einschüchterung mundtot machen“, schreibt auch das Bundesjustizministerium auf Nachfrage.

Das Ziel, so die Fachleute: Befürworter von Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie sollen sich aus den sozialen Netzwerken zurückziehen. Sie sollen dem Druck der Hetze weichen. So wie die frühere Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, die zeitweise ihr Twitter-Account abschaltete. So wie unlängst der Würzburger Anwalt und Aktivist gegen Hasskriminalität, Chan-jo Jun, der sich aus dem Netzwerk zurückzog.

Aber auch einige Ärztinnen und Kommunalpolitiker schalten sich nach eigenen Angaben weniger in Debatten in den sozialen Netzwerken ein – weil sie Hass und Hetze fürchten. „Die Betreiber nehmen in Kauf, dass die Follower dieser Listen dann auch Aktionen gegen die gelisteten Menschen starten, im schlimmsten Fall gewalttätige“, sagt Lamberty.

Angriffe aus der radikalen Corona-Gegner-Szene gab es zahlreiche in den Pandemie-Jahren. Das Bundeskriminalamt verzeichnet Übergriffe auf Demonstrationen gegen Polizeibeamte, aber auch Attacken etwa gegen Arztpraxen. Kommunalpolitiker registrieren Angriffe auf Rathäuser, auf Parteibüros.

In Idar-Oberstein erschießt ein rechter Verschwörungsideologe einen Tankstellen-Angestellten

Die Sicherheitsbehörden warnen auch vor Fällen „exzessiver Gewalt“. Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen eine Gruppe, die mutmaßlich plante, Minister Lauterbach zu entführen. Vor dem Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin zogen Corona-Leugner mit einem Fackelzug auf. In einem Berliner Eisstadion kam es im Winter zu Übergriffen auf das Personal – bei der Kontrolle der Corona-Maßnahmen.

Und: In Idar-Oberstein erschießt ein rechter Verschwörungsideologe einen Tankstellen-Angestellten, weil dieser auf die Maskenpflicht verwies. In Brandenburg tötet ein Vater Frau und Kinder, auch er war offenbar ein radikalisierter Gegner der Corona-Maßnahmen. Der Weg aus der vermeintlich „digitalen Welt“ in ein reales Bedrohungsszenario sei oft kurz, warnen Fachleute.

Auf sozialen Plattformen wie Twitter erstellen Nutzer Listen von „Impf-Faschisten“ oder digitale „Endlager“ für „verstrahlte Twitterer“, berichtet Expertin Lamberty. Auf Telegram sammeln Radikale Namen von Ärzten und Kliniken, die ihrer Ideologie entgegentreten. Es kursierten Termine von mobilen Impfbussen – verbunden mit dem Aufruf zu Stör-Aktionen.

Die Polizei kann die Sperrung von Webseiten anordnen

Nicht erst die radikalen Corona-Gegner nutzen Listen, um Andersdenkende als politische Feinde zu „markieren“. Die rechtsterroristische Gruppe des NSU hatte Feindeslisten, das Netzwerk „Nordkreuz“ führte Tausende Namen. Neonazis sammeln „Anti-Antifa“-Listen. Und auch die Gegenseite macht mobil, ein Hacker-Kollektiv veröffentlichte Namen und Adressen von Unterstützern eines rechtsextremen Online-Versands.

Gegen „Todeslisten“ und „Feindeslisten“ geht der Gesetzgeber mittlerweile schärfer vor, schaffte einen eigenen Straftatbestand zum „Gefährdenden Verbreiten personenbezogener Daten“. Die Polizei kann die Sperrung von Webseiten anordnen, wenn eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ besteht. Das Bundeskriminalamt will mit einer „Zentralstelle“ gegen Hasskriminalität angehen. Soweit die Theorie.

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In der Praxis berichten Opfer von Drohungen immer wieder, dass die Polizei ihnen wenig helfen könne. „Listen“ mit politischen Gegnern bleiben oft unentdeckt – oder werden von den Betreibern der Plattformen spät oder gar nicht gelöscht. Wichtig sei, Menschen, die davon betroffen sind, einen guten Zugang zu Unterstützungsangeboten zu gewährleisten, etwa beim Stellen von Anzeigen bei der Polizei, sagt Expertin Lamberty. Aber auch psychologische Hilfe sei zentral.

Ins Leben gerufen wurde das Portal von einem Radio-Journalisten

Noch geringer als bei „Feindeslisten“ ist der Zugriff des Staates auf die „Online-Pranger“. Denn dort geschieht kaum Strafbares. So listet die Webseite „Ich habe mitgemacht“ nur Namen und Zitate, plus Verlinkungen. Auch Lamberty ist hier gelistet.

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Doch eingebettet ist die Liste in eine politische Verschwörungsideologie. Ins Leben gerufen wurde das Portal von einem Radio-Journalisten, der bis vor Kurzem noch für öffentlich-rechtliche Sender gearbeitet hat. Der Journalist ist mittlerweile zentrale Figur der rechten Corona-Leugner-Szene, betreibt den Sender „Kontrafunk“.

„Privates poste ich nicht mehr“

Es lässt sich kaum ermitteln, welche Rolle Online-Pranger darauf haben, dass ein Mensch am Ende auch Gewalt als legitimes Mittel ansieht. Was aus Sicht der Radikalen „wirkt“, ist ihr Hass und die Hetze. Umfragen belegen, dass Menschen sich stärker fürchten, für Corona-Maßnahmen öffentlich einzutreten. Aus Angst vor den Reaktionen. Pia Lamberty berichtet, dass sie mittlerweile sehr gut überlege, was sie noch veröffentlichen kann. „Privates poste ich nicht mehr. Auch keine konkreten Orte, an denen ich mich aufhalten. Bei öffentlichen Veranstaltungen überlege ich gut, welches Sicherheitsrisiko besteht.“ Es sei erschreckend, dass der Grund für diese Vorsicht der Hass ist, und nicht die freie Entscheidung.

Ein erneuter trauriger Höhepunkt der Folgen von Hass und Hetze ist erst einige Tage her: Ende Juli begeht die österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr Suizid. Die Medizinerin hatte über Monate Drohschreiben aus der Szene der Impfgegner bekommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt – auch gegen die mutmaßlichen Verfasser der Hassbotschaften.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de