Berlin. Die Pandemie hat einem traurigen Höhepunkt erreicht. 100.000 Menschen sind in Deutschland gestorben. Was wir über die Opfer wissen.

Ein trauriger Meilenstein in der Corona-Pandemie in Deutschland ist erreicht. Die Zahl der Toten in Deutschland ist sechsstellig. Mehr als 100.000 Menschen sind im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben.

Im Sommer war die Zahl der täglichen Todesfälle stark zurückgegangen, schaut man aktuell auf die Statistiken des Robert Koch-Instituts (RKI), ist der Wert wieder dreistellig. Die Corona-Toten sind anonym – für die meisten, die nicht in Krankenhäusern arbeiten oder selbst Angehörige an das Virus verloren haben, nur eine Zahl. Was wissen wir über die Menschen, die in dieser vierten Welle an den Folgen einer Coronainfektion versterben?

Volle Intensivstationen: Auch jüngere Patienten sterben

In den ersten Wellen waren es die alten Menschen, die an Covid-19 starben, oft waren sie vorerkrankt und natürlich ungeimpft – nicht aus Überzeugung, sondern schlicht, weil es noch keinen Impfstoff gab. Der Altersdurchschnitt der Corona-Patienten auf Intensivstationen ist in dieser vierten Welle nun deutlich niedriger als noch im Frühjahr oder im vergangenen Herbst. Das lässt sich anhand des DIVI-Intensivregisters erkennen, Intensivmedizinerinnen und -mediziner berichten davon. Aber spiegelt sich das auch in den Todeszahlen wider?

Tatsächlich nur minimal: Der Median oder Mittelwert des Alters derer, bei denen die Krankheit tödlich verläuft, liegt weiterhin recht hoch bei 83 Jahren, im Sommer lag er nur unwesentlich höher bei 84. „Auch bei den Jüngeren gibt es Todesfälle“, sagt Frank Wappler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Aber Jüngere seien deutlich robuster und fitter und hätten weniger Vorerkrankungen. „Dadurch sind die Abwehrkräfte einfach besser”, sagt Wappler.

Intensivmediziner warnt: „Es kann jeden treffen“

Nach wie vor gelte also: Alte, ungeimpfte Menschen haben ein höheres Risiko, an den Folgen einer Coronainfektion zu sterben. Dazu kommen erschwerend Vorerkrankungen, sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit. „Aber es gibt keine Garantie: Es kann jeden treffen“, so der Arzt.

Nachrichten wie jüngst aus einem Pflegeheim in Jena, wo nach einem Corona-Ausbruch sechs Bewohner gestorben sind, gibt es seit Beginn der vierten Welle wieder mehr. In dem Jenaer Heim waren 88 Prozent der 120 Bewohner geimpft, die Impfquote der Mitarbeiter gab der Träger nicht an. Auch in einem Pflegeheim in Brandenburg starben bis zum 10. November 17 Bewohner und Bewohnerinnen an einer Covid-19-Erkrankung. Dort soll die Impfquote des Personals laut Landkreis bei 50 Prozent gelegen haben.

Wer einmal intubiert werden muss, hat nur noch eine 50:50-Chance, dass er oder sie die Erkrankung überlebt.
Wer einmal intubiert werden muss, hat nur noch eine 50:50-Chance, dass er oder sie die Erkrankung überlebt. © dpa | Danny Gohlke

Anders als noch vor einem Jahr spielt der Impfstatus eine entscheidende Rolle in der Todesstatistik wie auch bei der Hospitalisierungsrate: Denn ein Großteil der Patienten auf den Intensivstationen ist nicht geimpft. „Das ist tragisch, weil es vermeidbar ist“, sagt Wappler.

Auch doppelt Geimpfte unter den Corona-Toten

Unter den Infizierten sind zu einem überproportional großen Teil Menschen mit Migrationshintergrund. Sie arbeiten öfter als Menschen ohne Migrationsgeschichte in Jobs, in denen Homeoffice keine Option sind, leben häufiger in prekären Verhältnissen, haben schlechteren Zugang zu medizinischen Dienstleistungen. Ob ihr Anteil unter den Corona-Toten ebenfalls höher ist, will niemand bestätigen, Daten gibt es dazu nicht.

Doch auch doppelt geimpfte Menschen sind unter den Corona-Toten, in manchen Regionen sogar in recht großer Zahl. In Bayern beispielsweise waren knapp 30 Prozent der Todesopfer im Oktober doppelt geimpft. Diese Menschen waren zu einem großen Teil über 80 Jahre alt, haben also ihre Impfungen oft Anfang des Jahres bekommen. Ihr Impfschutz lässt bereits nach, und ohne eine Booster-Impfung sind sie vor einem schweren Verlauf nicht mehr geschützt.

Am Hamburger Uniklinikum seien sogenannte Impfdurchbrüche die Ausnahme, so Oberärztin Geraldine de Heer. „Wir behandeln viele ungeimpfte Patienten, darunter sind auch mal Corona-Leugner. Es sind tendenziell jüngere Menschen betroffen.“

Wenn junge Menschen intubiert werden müssen

Wer an Corona stirbt, bekommt das in den meisten Fällen gar nicht mehr mit, der ist oft schon seit Tagen intubiert, wird also künstlich beatmet. Der für die Patienten entscheidende Moment ist früher, kurz vor der Intubation. „Egal, ob die Person Corona leugnet oder nicht: Wenn wir die Diagnose geben und ankündigen, dass intubiert werden muss, dann sind die Leute schockiert“, sagt Geraldine de Heer. „Manche weinen, viele möchten nochmal mit der Familie telefonieren. Alle haben wahnsinnige Angst, weil sie seit der Pandemie wissen, worum es geht.“

Die Pandemie habe den Menschen ein ganz anderes Verständnis für die Maßnahme gegeben. „Ich kann mich an viele Patienten erinnern, die geweint haben. Einer sagte: Dann war’s das jetzt wohl für mich.“

Denn: Wer einmal intubiert werden muss, hat nur noch eine 50:50-Chance, dass er oder sie die Erkrankung überlebt. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft bestätigt: Die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer schweren Erkrankung, die eine Intensivbehandlung mit Beatmung erfordert, liegt zum Teil unter 50 Prozent.

Für die Pflegekräfte und die Ärztinnen und Ärzte auf Intensivstationen gehört das Sterben mit dazu, mehr noch als auf anderen Stationen im Krankenhaus. Es sei aber seit Pandemiebeginn mehr geworden, so Geraldine de Heer.

Ungefähr elf Tage vergehen zwischen den ersten Symptomen und dem Todesfall, besagt der epidemiologische Steckbrief des RKI zum Coronavirus. Die Neuinfektionen, die jetzt fast täglich Höchstwerte brechen, schlagen sich also anderthalb Wochen später in den Todeszahlen nieder.

100.000 weitere Corona-Tote?

Charité-Virologe Christian Drosten warnte vor einem starken Anstieg der Corona-Todesfälle: Er erwarte 100.000 weitere Tote in Deutschland, falls die Politik nicht gegensteuere, sagte Drosten im NDR-Info-Podcast „Das Coronavirus-Update“. Das wären so viele Menschen, wie in Deutschland bis heute insgesamt an Corona gestorben sind. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer befürchtet sogar mehr Tote als bei den bisherigen Wellen. Er glaubt, dass Deutschland noch bis Ostern zu kämpfen hätte: „Vorher wird diese Welle nicht zu Ende sein.“

Den bisherigen Höchststand pro Tag verzeichnete das RKI am 14. Januar 2021 mit 1244 Corona-Toten innerhalb von 24 Stunden. Elf Tage vorher, am 3. Januar, bestätigte das RKI 10.315 Neuinfektionen, ein Fünftel des aktuellen Höchstwertes von fast 53.000 Neuinfektionen – allerdings waren zu dem Zeitpunkt Anfang des Jahres die allerwenigsten Menschen in Deutschland geimpft.

„Prepare for the worst, hope for the best” (auf Deutsch: „Bereite dich auf das Schlimmste vor, hoffe auf das Beste“) ist das Motto, mit dem Geraldine de Heer in die nächsten Wochen geht. „Die Zahlen lassen Schlimmes befürchten“, so die Intensivmedizinerin. „Wir hatten über den Sommer die Gelegenheit, aufzutanken. Wir wussten, dass es kommt, nach den Lockerungen im Sommer. Wir haben damit gerechnet.“