Berlin. Deutschland hat einen traurigen Meilenstein der Pandemie erreicht. 100.000 Corona-Tote zeigen das große Versagen, meint unsere Autorin.

Die bloße Zahl an sich ist monströs, überwältigend – und eben jetzt sechsstellig. Mehr als 100.000 Menschen sind mit oder an den Folgen einer Ansteckung mit dem Coronavirus gestorben.

Es ist ein Moment, an dem wir kurz innehalten sollten. Denn auch wenn einen die Zahl nicht direkt betrifft, niemand aus der eigenen Familie oder aus dem engen Freundeskreis an Corona gestorben ist, diese Zahl fühlt sich unfassbar an, wie ein Fahrstuhlschacht, in den man blickt. Dunkel, zugig und kalt. Und nie kann man sich sicher sein, ob man nicht vielleicht selbst hineinfallen wird.

Ziemlich genau vor einem Jahr, Ende Oktober 2020, verzeichnete das Robert Koch-Institut eine damals ungeheure Zahl: 10.000 Menschen waren in Deutschland an den Folgen einer Ansteckung mit dem Coronavirus gestorben.

Diana Zinkler, Politik-Korrespondentin.
Diana Zinkler, Politik-Korrespondentin. © FMG

Wie der Gastronom Metin Aslan (63) aus Braunschweig, als er starb, trauerte die ganze Stadt. Oder Anne-Christa Falk (83) aus Hamburg, die ehemalige Chefsekretärin der Dresdner Bank und geliebte Mutter betreute ehrenamtlich Kinder in einem Sterbehospiz. Oder Robert Dennemärker (60) aus Schwalbach, der Ehemann und Vater von sechs Kindern gab alles für seine Familie, so erzählte es später seine Witwe Corina, wenn er nicht als Lkw-Fahrer unterwegs war, fuhr er noch Taxi. Sie hinterlassen nicht nur ihre Familien, sie reißen auch eine Lücke in der Gesellschaft. Denn ihre Leben sind mehr gewesen als nur eine bloße Zahl in der Statistik.

Vor einem Jahr hoffte man noch, wenn es endlich einen Impfstoff gäbe, dann würde das Sterben wegen Corona aufhören.

Christian Drosten und andere Experten warnten frühzeitig

Den Impfstoff gab es schließlich: Um Weihnachten 2020 herum wurden die ersten Menschen in Deutschland gegen das Virus geimpft. Erst Alte, Kranke, dann die, die wegen ihres Berufs Kontakt zu vielen Menschen haben, dann die Unverzichtbaren, so ging es, bis es im Sommer 2021 irgendwann genug Impfstoff für alle gab.

Doch genau in diesem Moment stagnierte die Impfquote in Deutschland. Dümpelte wochenlang bei etwas mehr als 60 Prozent. Die Zahl der Infektionen stieg wieder, und bereits Anfang September warnten Experten wie der Virologe Christian Drosten: Es droht eine vierte Welle, und die Intensivstationen im Winter werden voll.

So ist es gekommen. Und ein bisschen haben die Bilder von den Intensivstationen und die Appelle wohl gewirkt. Im Moment liegt die Quote etwa bei 71 Prozent. Doch das reicht nicht. Denn nur Impfungen schützen bisher am besten vor einem schweren Verlauf. Die Intensivstationen sind tatsächlich wieder voll. Viele der zumeist alten oder ungeimpften Patienten liegen dort Wochen und erholen sich nicht mehr. Allein an einem Tag wie Mittwoch sind 335 Menschen gestorben.

Wer hat das Recht darüber zu urteilen, in welchem Alter zu sterben sei?

Manch einer sagt, irgendwann muss man sterben, ob nun an Corona oder nicht. Das stimmt, aber so ein Gedanke ist zynisch.

Robert Dennemärker wollte mit seiner Frau zur Ruhe kommen, wenn die Kinder irgendwann aus dem Haus gewesen wären. Und wer hat das Recht, darüber zu urteilen, ob es mit 60, 63 oder 83 Jahren Zeit zu sterben ist? Niemand.

Die Verbreitung des Virus und die Härte, mit der es zuschlägt, können alle beeinflussen. Und nicht zu tun, was man kann aus Gründen der eigenen Unversehrtheit, das ist rücksichtslos.

Allerdings hätte auch die Politik bereits im Spätsommer, als klar war, dass die Impfquote stagniert, reagieren können. Die unpopuläre Impfpflicht offen debattieren und parlamentarisch beschließen müssen. Ein bitteres Versäumnis, das sich die noch geschäftsführende Bundesregierung in ihr Amtszeugnis wird schreiben dürfen.