Berlin. Laut einer „Spiegel“-Analyse sind einige RKI-Inzidenzen oft zu niedrig. Das Institut begründet das mit einem „Übermittlungsverzug“.

Während der Pandemie ist das Robert Koch-Institut die zentrale Autorität, allerdings sollen die Werte des RKI laut einer „Spiegel“-Datenanalyse teilweise ziemlich ungenau sein. Den Recherchen zufolge sollen mindestens 30 Prozent aller 7-Tage-Inzidenzen zwischen dem 31. August und dem 12. Oktober unvollständig und damit fehlerhaft gewesen sein. In den Berechnungen sollen durchschnittlich die Daten von mindestens einem Tag gefehlt haben.

7-Tage-Inzidenzen: RKI-Werte für Cloppenburg werfen Fragen auf

„Spiegel“ recherchierte unter anderem den Fall Cloppenburg. Der Landkreis ist der Corona-Hotspot in Niedersachsen. Am 8. Oktober lag die 7-Tage-Inzidenz laut des örtlichen Gesundheitsamts bei 90 – Alarmstufe Dunkelrot. Doch beim RKI wurde der niedersächsische Notstand nicht registriert. Am selben Tag wurde eine 7-Tage-Inzidenz von 24 angegeben. Damit bewegte sich die RKI-Zahl unter der 50er-Marke, obwohl diese in Wahrheit schon längst überschritten wurde.

Anhand der 7-Tage-Inzidenz wird bestimmt, ob vor Ort eine „ergänzende Maskenpflicht“ gilt, wie viele Menschen sich versammeln dürfen und ob Gaststätten früher schließen müssen. „Wir verlassen uns auf diese Zahlen, und sie müssen stimmen“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. „Das ist ein gravierender, systematischer Fehler, der korrigiert werden muss.“ Aber wie kann es zu solchen Fehlern kommen?

Corona-Infektionszahlen: Meldesystem führt zum zeitlichen Verzug

Das deutsche Meldesystem für Infektionskrankheiten, das zur Jahrtausendwende eingeführt worden ist, wird auch momentan verwendet. Sobald ein Labor einen positiven Corona-Test hat, wird das Ergebnis an das örtliche Gesundheitsamt geschickt – häufig per Fax. „Ein Großteil der Testergebnisse kommt nachmittags und abends“, sagte der Sprecher des Landkreises Cloppenburg.

Erst nachdem die Infizierten befragt, Quarantänen verhängt und Kontaktpersonen ausfindig gemacht wurden, tippt das Gesundheitsamt die Angaben in den Computer und schickt die Meldung zunächst der Landesbehörde, nicht sofort ans RKI. So erreichen neue Fälle Hannover in der Regel erst abends, wo dann niemand mehr arbeitet. Die Landesbehörde wiederum sammelt Meldungen verschiedener Landkreise und leitet sie dann bis 16 Uhr ans Robert Koch-Institut in Berlin weiter.

Wir sind am Anschlag unserer Kapazitäten. - Kontaktverfolgung in Berlin-Neukölln

weitere Videos

    Wegen des Verzugs kann das RKI die neuen Fälle aus beispielsweise Cloppenburg nicht mehr in die aktuelle Berechnung der 7-Tage-Inzidenz miteinbeziehen – und trägt für den aktuellen Tag eine Null ein. Somit fallen die RKI-Infektionszahlen häufig zu niedrig aus. Gegenüber „Spiegel“ bestätigte das RKI den „Übermittlungsverzug“ und dass es mit den „am aktuellsten zur Verfügung stehenden Daten“ arbeitet. Das Institut veröffentlicht seine 7-Tage-Inzidenzen täglich kurz nach Mitternacht.

    Außerdem verrechnen die Behörden ihre Infektionszahlen mit anderen Einwohnerzahlen als das RKI: Hamburg verwendet beispielsweise eine um fast 60.000 größere Einwohnerzahl, weshalb sich die Inzidenzen selbst bei denselben Infektionszahlen wieder unterscheiden würden.

    Corona-Zahlen des RKI: Wie handhaben die Bundesländer die Übermittlungen?

    Hamburg: Die Zahlen der Hansestadt sind in der Regel recht alt, denn Hamburg rechnet seine Fälle morgens um neun Uhr zusammen und leitet die Informationen ans RKI weiter. So sind zwar fast alle Meldungen vom Vortag enthalten, allerdings können die Daten bis zum Abend nicht mehr aktualisiert werden. Somit kann das RKI seine 7-Tage-Inzidenz nur anhand von etwa sechs Tagen berechnen. Darum sind die RKI-Werte durchschnittlich um 25 Prozent zu niedrig.

    Berlin : Die Hauptstadt zählt seine neu Infizierten jeden Tag bis zwölf Uhr zusammen und meldet diese anschließend dem RKI. Deshalb fallen immerhin nicht alle Infektionszahlen dieses Tages unter den Tisch, wie es fast immer in Hamburg der Fall ist. Das RKI berechnet also für Berlin eine Art 6,5-Tage-Inzidenz.

    Risikogebiet- Berlin ist Corona-Hotspot

    weitere Videos

      Baden-Württemberg : Die Inzidenzen dieses Bundeslandes liegen näher an den tatsächlichen Werten, da hier bis 16 Uhr gewartet wird, bevor das RKI die Daten erhält.

      Hessen: Das Landesamt gibt seine Meldungen bis 21 Uhr weiter und liefert so stets aktuelle Daten ans RKI. Auch Bremen und Schleswig-Holstein lieferten im Zeitraum der „Spiegel“-Analyse aktuelle Zahlen. In Sachsen sind die Werte wegen des Verzugs dagegen durchschnittlich um 19 Prozent zu niedrig.

      Durch den Verzug in der Übermittlung der Infektionszahlen können die RKI-Werte für manche Bundesländer ungenau sein.
      Durch den Verzug in der Übermittlung der Infektionszahlen können die RKI-Werte für manche Bundesländer ungenau sein. © dpa | dpa-infografik GmbH

      Infektionszahlen verfälscht: Wie kann man Ungenauigkeiten vermeiden?

      Obwohl auch IT-Probleme die RKI-Zahlen verfälschen können, liegen regelmäßige Ungenauigkeiten vor allem an den Arbeitsweisen der Gesundheitsämter und den verschiedenen Deadlines der Bundesländer. Man könnte den Umweg über die Gesundheitsämter prinzipiell vermeiden und die Zahlen direkt dem Robert Koch-Institut zukommen lassen. Dafür müsste allerdings das Infektionsschutzgesetz geändert werden. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass das RKI den Zeitpunkt seiner Datenveröffentlichung verschiebt.

      Das Team von Helmut Küchenhoff, Statistikprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, nimmt für die Berechnung die Zahlen nur bis zum Vorvortag. „Die Zahlen sind dann zwar nicht ganz so aktuell, dafür aber weniger lückenhaft und von Kreis zu Kreis besser vergleichbar“, sagte er. SPD-Experte Lauterbach schlug vor, fehlende Werte durch Mittelwerte der Vor­tage aufzufüllen.

      Pandemie: An welchen Zahlen sollten sich Bürgerinnen und Bürger orientieren?

      Dass der Landkreis, das Bundesland und das RKI für denselben Tag und ­denselben Ort drei unterschiedliche Werte angeben können, ist vor allem für Bürgerinnen und Bürger verwirrend. Eine Faustregel für die 7-Tage-Inzidenzen der Bundesländer mit Verzug ist: In Hamburg gilt die höhere Landeszahl, in Sachsen können die Kommunen weitgehend selbst entscheiden, an welchem Wert sie sich orientieren und die Werte sogar selbst berechnen. In Bayern gilt die Zahl des Landes, es sei denn, die Zahl des RKI ist höher – dann gilt diese. (day)