Kahramanmaras. . In der Türkei befreien Retter vier Tage nach der Katastrophe eine Frau aus den Trümmern eines Wohnhauses. Die Geschichte eines Wunders.

Es ist das Lächeln der Retter, das dieses kleine Wunder ankündigt. Der Daumen, den sie nun nach oben recken, eingepackt in Handschuhe, an denen Schmutz und Staub klebt.

Ein knappes Dutzend Rettungskräfte steht auf einem Schutthaufen, der einmal ein Wohnhaus gewesen ist, vielleicht sechs oder acht Stockwerke hoch. Andere Helfer hocken auf den Trümmern, Reihe an Reihe, bilden eine Treppe aus Menschen, den Hang hoch zu dem Einsatz an dem Ort, damit sie schnell Gerät, Decken und Wasser hochreichen können.

Gerade schleppen sie eine gelbe Trage hoch, dort, wo zwischen Betonplatten, Sand und Zement ein kleiner Schacht in den Trümmerberg führt. Die Rettung ist nahe – und doch kommt es für die Helfer auf jede Minute an. Das Risiko bleibt hoch. Lesen Sie auch: Reporter-Tagebuch, Tag 2: Rettungsaktion im Erdbebengebiet

Die türkische Stadt Kahramanmaras nach dem verheerenden Erdbeben.
Die türkische Stadt Kahramanmaras nach dem verheerenden Erdbeben. © Reto Klar / FUNKE Foto Services

Türkei: Lebenszeichen unter Trümmern

Zwei Stunden ist es her, da hören die Rettungskräfte der türkischen Organisation „Anda“ die Stimme einer Frau. Es ist Freitagabend, mehr als 100 Stunden, mehr als vier Tage und vier Nächte nach dem verheerenden Beben hier in der Region. Die Frau habe auf Rufe der Retter geantwortet, werden die Helfer später erzählen. Dann nutzen sie ein Gerät, das Herztöne auch unter Schutt und Stahl orten kann. Doch selbst dann, wenn die Einsatzkräfte ein Lebenszeichen lokalisieren, müssen sie erst einmal hinkommen.

Zwei Bagger und ein Kran sind hier an dem Schutthaufen im Zentrum der Stadt im Einsatz. Doch jetzt stoppen sie ihre Arbeit. Retter versuchen, die Frau zu erreichen. Die Chancen stehen besser, wenn beim Einsturz des Hauses kleine Kammern zwischen Stahlträgern und Betonplatten entstehen. Räume des Überlebens, in denen Verschüttete unverletzt bleiben und Luft zum Atmen haben. Wenn es gut läuft.

Nach diesen kleinen Schächten, nach diesen Durchbrüchen suchen Bergungsspezialisten. Oder sie schaffen sich diese Schächte selbst, hebeln mit Spezialgerät, mit Winden, Seilen, Abstützungen die Betonplatten auseinander, die einst die Stockwerke der Häuser trennten. Diese Schächte sind ihre Wege zu den Opfern. Manchmal dauert es 15 Stunden, manchmal mehr als 30, um den Menschen zu erreichen. Manchmal auch nur zwei oder drei.

Erdbeben: Verletzungen verringern Überlebenschance

72 Stunden, sagen Einsatzkräfte, ist die Grenze, um einen Menschen noch lebend aus den Trümmern rauszuholen. Danach sinken die Chancen rapide, wenn die Person nicht unter dem Schutt zumindest an Wasser kommt. Retter erzählen unserer Redaktion, dass sie in anderen Einsätzen auch nach einer Woche noch Menschen lebend herausgeholt hätten. 2010 bergen Helfer nach dem schweren Beben in Haiti ein 16 Jahre altes Mädchen lebend – 15 Tage nach den Erschütterungen.

Entscheidend ist auch, ob eine Person bei dem Einsturz des Hauses schwer verletzt wurde – oder durch Glück unverletzt blieb. Blutende Wunden, schwere Quetschungen durch herabstürzende Trümmer verringern die Überlebenschancen deutlich.

In den betroffenen Orten der Türkei kommt noch eine beißende Kälte dazu. In Kahramanmaras sinken die Temperaturen an diesem Abend in Richtung Gefrierpunkt. Das Erdbeben traf die Region in der Nacht, viele Menschen lagen im Bett, hatten wenig Kleidung an.

Doch das sind die Statistiken, die Wahrscheinlichkeiten, Chancen und Risiken. Jetzt, auf dem Schutthaufen im Zentrum der Stadt, interessieren sie niemanden. Was interessiert, ist das Leben dieser einen Frau. Mehr als 25.000 Tote zählen die Behörden und Hilfsorganisationen bereits in der Türkei und in Syrien.

Türkei: Menschen überleben tagelang unter Trümmern

Doch auch jetzt, Tage nach der Katastrophe, retten Helfer Leben. Medienberichte zeugen von diesen kleinen Wundern: Helfer holen ein fünf Jahre altes Mädchen aus dem Schutt, 89 Stunden nach dem Beben. Die zweijährige Fatma, 88 Stunden danach. Den 17 Jahre alten Adnan, 94 Stunden später. Den 24-jährigen Kazim, 108 Stunden nach dem Beben. Und an diesem Abend, im Zentrum von Kahramanmaras, soll es diese Frau sein, die nicht in die Statistik der Toten einfließen soll. Die es schaffen soll.

Eine Ärztin ist mittlerweile hochgeklettert zu dem kleinen Schacht, in den die Retter nun immer wieder einsteigen. Vor dem Einsatzort sammeln sich Menschen, auch ein Kamerateam eines türkischen Fernsehsenders filmt, einige Polizisten sichern die Wege ab, Krankenwagen stehen an der Straße bereit.

Dann werden die Rufe der Helfer lauter, und die Retter, die am Hang die Treppe bilden, recken ihre Arme zur Stütze über ihre Köpfe. Auf einer Trage ziehen sie vorsichtig die Frau nach oben. Man sieht ihren Körper nicht, auch ihr Gesicht nicht. Es ist bedeckt mit einer Rettungsdecke aus gold-glitzernder Folie. Einer der Helfer trägt die Flasche mit der Infusion, die über ein Kabel mit dem Arm der Frau verbunden ist. Es ist das Erste, was Retter den Menschen anlegen. Der Kreislauf muss für die aufwendige Rettung durch den Schacht nach draußen, ans Licht, so stabil sein wie möglich.

Retter bergen am 10. Februar 2023 in der vom Erdbeben schwer getroffenen türkischen Stadt Kahramanmaras eine Frau.
Retter bergen am 10. Februar 2023 in der vom Erdbeben schwer getroffenen türkischen Stadt Kahramanmaras eine Frau. © Reto Klar/FUNKE

Dann brandet Jubel auf. Menschen applaudieren. Die Helfer tragen die Frau in Richtung Krankenwagen. „Allahu akbar“, ruft die Masse. Es ist ihr Ausdruck der Freude – in einem Alltag, der seit der Nacht zu Montag genauso wie viele ihrer Häuser in Trümmern liegt.

Ein älterer Mann, vielleicht ein Bekannter, vielleicht ein Nachbar, steht neben den Rettern, die nun vor Mikrofonen von der Frau berichten sollen. Der Mann umarmt die Männer und Frauen, küsst sie auf die Wangen, Tränen in den Augen. Der Krankenwagen rauscht los, mit Blaulicht in Richtung Krankenhaus. Die Frau ist gerettet – aber sie muss noch überleben.

45 Jahre sei die Frau alt, berichtet ein Helfer kurz danach. Und sie habe noch sagen können, dass unter den Trümmern ein weiterer Mensch liege. Ein Mann, der lebe. Wo genau, hat die Frau nicht gesagt. Doch für die Retter ist auch das ein Lebenszeichen, ein Hinweis auf ein weiteres kleines Wunder. Sie klettern wieder hoch auf den Hang am Trümmerberg, und hinunter in den kleinen Schacht.

Retter jubeln, nachdem sie an Tag 5 nach dem Erdbeben eine Frau lebend bergen konnten.
Retter jubeln, nachdem sie an Tag 5 nach dem Erdbeben eine Frau lebend bergen konnten. © Reto Klar / FUNKE Foto Services