Berlin. Laut einer neuen Umfrage hat die Gewalt gegen Lehrkräfte an allen Schulformen deutlich zugenommen. Der Lehrerverband VBE ist „alarmiert“.

Eine repräsentative Forsa-Umfrage zeigt, dass Gewalt gegen Lehrer und Lehrerinnen in Deutschland stark zunimmt. Die physische und psychische Bedrohung, die Lehrkräfte im Schulalltag erfahren, alarmiert die Lehrergewerkschaft Verband Bildung und Erziehung (VBE).

Es handele sich längst nicht mehr um einzelne Fälle, sagte der Vorsitzende des VBE, Udo Beckmann, bei der Vorstellung der Studie am Donnerstag. Meist werden aber nur Einzelfälle publik, erhalten besonders viel Aufmerksamkeit. Oft weil das Maß der Gewalt so schockierend ist, zum Beispiel bei dem versuchten Mordversuch an einem Dortmunder Lehrer im Mai 2019.

Kein Einzelfall: 61 Prozent der Schulen haben Problem mit Gewalt gegen Lehrkräfte

Drei Schüler einer Gesamtschule gingen damals auf einen Lehrer los, sie hatten ihn zu einem abgelegenen Teil des Lehrerparkplatzes gelockt, waren mit Hämmern bewaffnet. Dass der Lehrer Verdacht schöpfte und keinem der Jugendlichen den Rücken zukehrte, könnte ihm das Leben gerettet haben.

Grund für den gewalttätigen Angriff soll die Wut über schlechte Noten gewesen sein. Im Juli dieses Jahres wurde der damals 16-jährige Haupttäter wegen versuchten Mordes schuldig gesprochen. Er muss nun eine Jugendstrafe von drei Jahren absitzen, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

Der Fall aus Dortmund ist vielleicht ein besonders schwerer, aber längst kein Einzelfall. Die Umfrage des VBE zeigt, dass mittlerweile fast zwei Drittel der Schulen ein Problem mit Gewalt gegen Lehrkräfte hat. Die repräsentative Befragung von 1.302 Schulleitungen zeigt nicht nur einen Anstieg bei den Erlebnissen physischer Angriffe, sondern ganz besonders auch psychischer Gewalt.

Körperliche Angriffe gegen Lehrer in der Grundschule häufiger

Dabei unterscheidet sich die Art der Gewalt nach Alter und Schulform. Direkte psychische Gewalt tritt der Umfrage nach deutlich häufiger an Sekundarschulen auf, außer an Gymnasien. Psychische Gewalt über das Internet üben meist ältere Schüler der Sekundarstufe aus. Körperliche Angriffe treffen hingegen sehr viel häufiger Grundschullehrer.

„Jüngere Kinder können ihre Emotionen noch nicht so gut kontrollieren. Manchmal wissen sie sich nicht anders zu helfen. Trotzdem ist das eine bedenkliche Zahl, die in den Kultusministerien dringend zu der Frage führen sollte, wie die Lehrkraft unterstützt werden kann“, sagt VBE-Chef Udo Beckmann.

Forsa-Umfrage: Gewalt gegen Lehrkräfte nimmt an allen Schulformen zu

„Es ist erschütternd, wie stark die Zahlen gestiegen sind. Zumal die Kultusministerien öffentlich stets versichern, dass es sich nur um Einzelfälle handelt“, kommentiert Beckmann die Umfrage. Einigen Bundesländern sei Gewalt gegen Lehrkräfte weiterhin nicht mal eine Statisti k wert, beklagt die Gewerkschaft. „Enttäuschend ist da die Antwort: ‚Obwohl wir keine Zahlen erheben, können wir versichern, dass es nur Einzelfälle gibt.‘ Da muss man sich schon fragen, woher diese Gewissheit genommen wird“, so der Bundesvorsitzende des VBE mit Blick auf die aktuelle Umfrage.

Die Umfrage zeichnet ein anderes Bild als die Bildungsministerien: 61 Prozent der befragten Schulleitungen geben an, dass es in den letzten fünf Jahren an ihrer Schule Fälle gab, in denen Lehrkräfte direkte psychische Gewalt erlebten. 2018 sagten dies nur 48 Prozent. Eine ähnlich dramatische Entwicklung gibt es auch beim Internet-Mobbing der Lehrkräfte. 2018 gaben noch 20 Prozent der Schulleitungen an, dass es in den vergangenen Jahren solche Fälle an ihrer Schule gegeben habe. Mittlerweile sind es 32 Prozent.

Gewalt an Schulen: zu wenig Lehrpersonal, Sozialpädagogen und Psychologen

Auch die Fälle körperlicher Gewalt haben in den vergangenen zwei Jahren deutlich zugenommen. Über ein Drittel der Schulleitungen geben an, dass es an ihrer Schule in den letzten fünf Jahren Lehrkräfte gab, die tätliche Angriffe erlebten. 2018 waren es nur knapp ein Viertel der Befragten gewesen.

Dieser starke Zuwachs habe selbst ihn überrascht, sagte VBE-Chef Beckmann unserer Redaktion. Die Zunahme der körperlichen Gewalt sei ein weiteres Warnsignal dafür, dass die Bedingungen im schulischen Betrieb nicht stimmen würden: „Wir haben zu wenig Lehrpersonal und zu wenig Unterstützung durch andere Professionen wie Sozialpädagogen und Psychologen.“

Dass die Gewalt gegen Lehrerinnen und Lehrer zunehme, habe auch mit einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu tun, vermutet Beckmann. „Wir beobachten seit Jahren eine Verrohung in der Sprache und im Umgang miteinander. Und gerade jetzt während der Corona-Pandemie zeigt sich, wie rücksichtlos Menschen miteinander umgehen.“ Das strahle auf Kinder, Jugendliche und damit den Schulbetrieb aus.

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Schulleitungen können Lehrer oft nicht ausreichend unterstützen

Zudem kritisiert der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft, dass von Seiten der Politik und der Öffentlichkeit „riesige Erwartungen“ an Schulen gestellt würden. „Schulen sollen heute vieles leisten, was sie gar nicht können, weil die Bedingungen nicht gegeben sind. Wenn die Ansprüche der Öffentlichkeit und stellvertretend der Eltern auf die Realität prallen, führt das heute automatisch zu Konflikten“, so Beckmann.

Beckmanns Schilderung deckt sich mit den Ergebnissen der Umfrage: Wenn Schulleitungen ihre Kolleginnen und Kollegen nicht ausreichend in der Konfliktsituation unterstützen konnten, begründen sie das meist damit, dass Eltern nicht kooperationswillig waren. In mehr als der Hälfte der Konfliktsituationen hätte die Lehrkraft aber auch nicht genug Unterstützung erhalten, weil die betroffenen Schülerinnen und Schüler sich oft uneinsichtig zeigten.

VBE kritisiert Bildungsminister – zu wenig Unterstützung bei Gewaltproblem

Die Klärung der Konflikte macht der VBE große Sorgen: Bei der Umfrage zwei Jahre zuvor gaben noch überwältigende 87 Prozent der Schulleitungen an, dass sie die Kolleginnen und Kollegen, die Gewaltvorfälle erlebt haben, hier ausreichend unterstützen konnten. 2020 ist es nur noch knapp die Hälfte der Schulleiterinnen und Schulleiter. „Wenn die Gewaltvorfälle stark steigen, bleibt die Unterstützung auf der Strecke. Das ist nicht die Schuld der Schulleitung, sondern eine Frage endlicher Ressourcen“, sagt Beckmann. Müssten Schulleitungen nicht die gesamte Administration, beispielsweise gerade auch in der Corona-Zeit übernehmen, hätten sie mehr Zeit, sich um das Kollegium zu kümmern.

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Unzureichend sei aber auch die Unterstützung durch Landesschulbehörden oder Bildungsministerien: Fast ein Drittel der Befragten beklagt, dass das jeweilige Schulministerium sich des Themas nicht ausreichend widme. Und für ein Viertel der Schulleitungen ist die Meldung von Vorfällen zu bürokratisch und zeitaufwendig organisiert. Hier sieht die Lehrergewerkschaft VBE großen Handlungsbedarf: Neben massiven Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, mehr Fortbildungsangeboten und Aufmerksamkeit für das Thema Konflikt in der Lehrerausbildung müsse es unbürokratische Meldesysteme und schnelle Hilfe nach einem Vorfall geben, fordert der Verband.

Für Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sind „Angriffe jeder Art“ gegen Lehrer „absolut inakzeptabel“. Schüler, die die Würde und Integrität von Lehrern verletzten, müssten wissen, „dass dies Konsequenzen nach sich zieht“, sagte Karliczek unserer Redaktion. Dabei seien auch die Eltern einzubeziehen. Viel wäre erreicht, wenn die Gesellschaft den Lehrern „insgesamt mehr Respekt und Wertschätzung entgegenbringen würde“, betonte die Bildungsministerin.

Viele Taten gegen Lehrer werden von der Kriminalstatistik nicht erfasst

Auch der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sagte gegenüber dieser Redaktion, dass physische, insbesondere aber auch psychische Gewalt gegen Lehrkräfte ein Thema sei, dass Lehrerverbände, aber auch die Personalräte vor Ort zunehmend beschäftige. Ein Problem, das sich von Jahr zu Jahr ausgeweitet und verschärft habe, sei Cybermobbing. „In den WhatsApp-Klassenchats, die es praktisch in jeder Klasse an weiterführenden Schulen gibt, wird sehr oft brutal gegen Lehrkräfte vom Leder gezogen“, so Meidinger.

Die Corona-Zeit hat nach Einschätzung Meidingers die Problematik noch verschärft: „Das negative Lehrerbild das zuletzt in der Öffentlichkeit gezeichnet wurde, hat nach unseren Rückmeldungen auch vermehrt zu Beleidigungen und verbalen persönlichen Angriffen gegenüber Lehrkräften vor Ort geführt.“ Sogenanntes „Lehrerbashing“ sei zum Teil wieder hoffähig gemacht worden. Das bedeute zwar nicht, dass sachliche Kritik an den Schulen nicht angebracht sei, so der Vorsitzende des Lehrerverbands, aber die Grenze sei zunehmend überschritten.

Laut Bundeskriminalamt wird der Beruf „Lehrkraft“ nur in Bezug auf die Opfer eines Deliktes erfasst. Eine Abfrage der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigt aber: Nicht nur der Aussage und Wahrnehmung der Schulleitungen nach steigt das Gewaltpotenzial in der Schule. Insgesamt wurden 2.235 Lehrkräfte 2019 Opfer eines Gewaltdelikts.

Legt man denselben Maßstab wie die Umfrage des VBE an und blickt fünf Jahre zurück, bestätigt sich der dramatische Trend: 2014 wurden nur 1.550 Lehrer Opfer von Gewalt. Weibliche Lehrkräfte sind fast doppelt so häufig betroffen, die meisten Delikte liegen im Bereich der Körperverletzung. Die Zahlen beziehen sich selbstverständlich nur auf die Fälle, die auch tatsächlich polizeilich verfolgt wurden. Doch auch diese Daten sprechen eine klare Sprache: Gewalt gegen Lehrkräfte, ob körperlich oder als Hasspost im Internet, wird zunehmend zum Problem an deutschen Schulen.

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