Berlin/Ahrweiler. Warnungen vor den Wassermassen hatte es gegeben – doch bei der Flut starben mehr als 160 Menschen. Die Kritik an Horst Seehofer wächst.

Es ist 17.40 Uhr am vergangenen Mittwoch, als der Landrat von Ahrweiler die Alarmstufe 4 schon ausgerufen hat und die Einsatzleitung im Krisenstab schon mehrere Hundert Feuerwehrleute und Rettungskräfte in den kleinen Orten zwischen Bonn und Koblenz zu den Häusern und an das Ufer der Ahr geschickt hat.

Wie ernst die Lage ist, wird in diesen Stunden klar. Der Pegel der Ahr liegt kurz vor 18 Uhr bei 2,6 Metern. Das Wasser steigt rasant. Schon um 19.30 Uhr ist das bisherige Rekordhochwasser von 2016 pulverisiert. Die Ahr hat nun einen Pegel von fast vier Metern. Um 21 Uhr sind es schon fast sechs.

Städtetag fordert: Katastrophenschutz muss auf den Prüfstand

„Die Geschwindigkeit und das Ausmaß, mit der die Flut die betroffenen Orte heimgesucht hat, waren absolut außergewöhnlich“, sagt Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages. Er fordert „nach der akuten Nothilfe eine glasklare Analyse“ des Katastrophenschutzes. Ein System, das nach der Flut mehr als 160 Tote zurücklässt.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) steht am Mittag, fünf Tage nachdem Ahrweiler die Alarmstufe 4 ausgerufen hat, vor Männern in Uniform. Im Hintergrund rattert ein Helikopter über das Krisengebiet. Seehofer sagt, er habe in all den Jahren als Politiker „so etwas noch nie erlebt“ und sei „tief erschüttert“. Doch er muss sich hier auch der Kritik stellen, die mit dem Aufräumen nach der Flut wächst.

Gastanks, Bäume, Wohnwagen, Schrott: In Altenahr (Rheinland-Pfalz) türmt sich an der zerstörten Eisenbahnbrücke der Müll meterhoch.
Gastanks, Bäume, Wohnwagen, Schrott: In Altenahr (Rheinland-Pfalz) türmt sich an der zerstörten Eisenbahnbrücke der Müll meterhoch. © dpa | Boris Roessler

Opposition spricht von „Systemversagen“ und fordert Seehofers Rücktritt

Die FDP spricht von einem „Systemversagen“. Die Warnungen der Meteorologen seien „weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden“, sagt Fraktionsvize Michael Theurer. Die Linke fordert Seehofers Rücktritt.

Warnungen hatte es gegeben. Viele und oft. Das zeigen Recherchen unserer Redaktion und anderer Medien. Schon am Abend bevor der Pegel der Ahr überhaupt angestiegen war, warnt der Deutsche Wetterdienst in Meldungen vor „ergiebigem Dauerregen“. Am nächsten Morgen erhöht der Dienst die zu erwartenden Regenmengen erneut.

Nach der Warnung entscheiden Politiker und Leitstellen vor Ort

Doch was aus diesen Warnungen folgt, ist Sache der Politiker und der Leitstellen der Einsatzkräfte vor Ort: in den Landkreisen. Wer etwa im besonders betroffenen Kreis Ahrweiler wie und wann informiert wurde, ist undurchsichtig. Eine Anfrage lässt die Verwaltung bis Montagabend unbeantwortet. Klar ist: Einzelne Menschen werden schon am Dienstag, mehr als einen Tag vor der Flut, informiert.

So etwa der Campingplatzbesitzer, der die Stellplätze in der ersten Reihe am Fluss räumen sollte. Auch am Tag danach werden Anwohner laut Landkreis-Pressemitteilung gewarnt, können sich Sandsäcke bei der Verwaltung abholen. Und dennoch wirken die Mitteilungen des Kreises zu dieser Zeit nicht, als stünde ein Jahrhunderthochwasser bevor.

Die Warnung über App oder SMS reicht nicht aus

Am Mittwochabend dann, als das Wasser schon Häuser überschwemmt, evakuieren Rettungskräfte die Gebäude am Ufer. Es helfen Einheiten von Feuerwehr und Polizei aus Nachbarorten. Doch das System ist längst am Limit, der Notruf überlastet.

Einzelne Anwohner, davon ist auszugehen, hatten die Warnungen bereits Tage zuvor digital erreicht, per App oder SMS. Doch das reicht nicht aus, sagt Karl-Heinz Banse, Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes, unserer Redaktion. „Viele Menschen schlafen nachts und hören ihr Handy nicht.“ Gerade ältere Menschen betreffe dies.

Feuerwehrverband plädiert für die Reaktivierung der „klassischen Sirene“

„Außerdem melden die Apps durchaus regelmäßig Warnungen. Das birgt die Gefahr von Abnutzungseffekten bei der Bevölkerung“, sagt Banse. Zudem sind digitale Systeme anfällig, wenn der Strom ausfällt oder das Handynetz zusammenbricht. Banse fordert etwa, dass wieder mehr mit „klassischen Sirenen“ gewarnt werden müsse. Viele wurden in Deutschland nach Ende des Kalten Krieges deinstalliert.

Deutschlands Katastrophenschutz sei ein Flickenteppich, bemängeln die Grünen. Und darin bestehe eine große Gefahr. Es dürfe nicht sein, „dass jede Kommune und jeder Landkreis und jede Landesregierung die Menschen in der Region unterschiedlich stark alarmiert und unterschiedlich gut Zugang zu den wichtigen Informationen im Katastrophenfall bietet“, sagt Innenexpertin Irene Mihalic. Sie fordert mehr Kompetenz etwa beim Bundesamt BBK. Zu lange sei bei der Reform im Katastrophenschutz kaum etwas passiert.

Warnsysteme bei Katastrophenfälle in Deutschland

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    In der Kritik: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) weist die Forderungen nach seinem Rücktritt zurück. © dpa | Thomas Frey

    Ein Schritt, erklären Krisenmanager, ist die richtige und schnelle Information der Menschen. Ein weiterer Schritt aber: Die Menschen müssen auf die Warnung richtig reagieren. Manche Anwohner, so berichten es Hilfsorganisationen vor Ort, seien den Warnungen der Einsatzkräfte nicht gefolgt, wollten ihr Haus nicht verlassen. Andere, so heißt es, seien in ihre Wohnungen zu früh zurückgekehrt. Wieder andere hätten in der Nacht gesehen, dass der Regen aufgehört hatte – und legten sich ins Bett. Erst dann kam das Wasser.