Berlin. Auf TikTok mischen sich immer häufiger Möchte-Gern-Detektive in polizeiliche Ermittlungen ein. Ein True-Crime-Trend mit Schattenseiten.

Scharfsinnig löst die liebenswert-schrullige Jungfer Miss Marple als Hobbyermittlerin in Agatha Christies Romanen Kriminalfälle. Wie kleine Miss Marples fühlen sich nun auch Tiktokerinnen und Tiktoker, die teilweise hunderte Kilometer anreisen, um ungefragt in Vermisstenfällen zu ermitteln. Dabei filmen sie sich und stellen alles online. Ein Trend aus den USA, der jüngst auch in der Heimat der Roman- und Filmheldin Miss Marple, England, angekommen ist.

Am 27. Januar dieses Jahres verschwand aus dem verschlafenen Dörfchen St. Michael’s on Wyre im Nordwestengland eine 45-jährige Frau, als sie mit ihrem Hund am gleichnamigen Fluss Gassi ging. Währenddessen war sie mit ihrem Handy bei einem Geschäftsanruf eingeloggt. Hund und Telefon wurden gefunden – von der Frau fehlte jede Spur. Mehrere Male suchten Taucher im Fluss nach der verschwundenen Mutter. Gut drei Wochen später wurde die Leiche der Frau in der Wyre gefunden.

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Ähnlich wie Marple, aber weniger erfolgreich, mischten sich die Tiktok-Amateurdetektive in die polizeilichen Ermittlungen ein: „Social-Media-Nutzer haben Privatdetektiv gespielt“, so Detective Superintendent Rebecca Smith. Je länger die Suche andauerte, desto lauter wurden die Gerüchte und desto mehr Schaulustige strömten in das kleine Dorf.

Vermisstenfall in England auf Tiktok 270 Millionen Mal abgerufen

Selbsternannte Hobby-Detektive überschritten Absperrbänder der Polizei, stellten eigenmächtige Ermittlungen an, filmten alles mit dem Handy und luden die Videos ins Netz, meistens auf Tiktok. Und die Internet-Gemeinde, die spekulierte wild mit. Das Interesse auf TikTok war enorm. Innerhalb von drei Wochen wurden Videos mit dem Namen der Vermissten als Hashtag 270 Millionen Mal abgerufen. Die Suche nach der Britin wurde zu einem viralen Phänomen.

Auf dieser Bank am Ufer des Flusses Wyre wurde das Handy der Vermissten gefunden (Archivbild).
Auf dieser Bank am Ufer des Flusses Wyre wurde das Handy der Vermissten gefunden (Archivbild). © dpa | Peter Powell

Der ehemalige Polizeichef Bob Eastwood warnte vor der Gefahr, die von dem neuen Phänomen ausgeht und verglich die sozialen Medien mit einer „großen Bestie, gefräßig nach Informationen“. Das Verhalten der modernen Gaffer sei ein „Gamechanger“, der alles ändere. „Leute erfinden Dinge, dazu werden Experten gemischt, die keine Beweise haben“, so der Ex-Polizist weiter.

„Hobby-Detektive mit einem Hang zu Social-Media-Aktivitäten stören eher die polizeilichen Ermittlungen, als dass sie diese effektiv unterstützen würden“, sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Alexander Poitz. Zudem könnten Social-Media-Beiträge falsche Verdächtigungen auslösen.

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Auch im Dorf war der Ärger über die Gaffer groß. Die Bewohnerinnen und Bewohner fühlten sich von den ungebetenen Detektiven belästigt. Mitunter fanden die ungebetenen Helfer jedoch auch Zuspruch: „Diese Berichte könnten jemanden dazu bringen, sich mit echten Informationen zu melden“, sagte eine Mutter der BBC.

Abermals sorgt ein TikTok-Trend für Schlagzeilen.
Abermals sorgt ein TikTok-Trend für Schlagzeilen. © dpa | Sean Kilpatrick

USA: Der Fall Gabby Petito geht auf TikTok viral

In den USA sind Hobby-Detektive bereits ein bekanntes Phänomen. Selbsternannte Experten äußern sich auf Youtube und Tiktok zu Kriminal- und Vermisstenfällen. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr 2021 der Vermisstenfall von Gabby Petito. Die 22-Jährige reiste mit ihrem Verlobten und Reisepartner Brian Laundrie von New-York aus entlang der Westküste durch die USA. Regelmäßig postete Petito auf ihren Social-Media-Kanälen Fotos ihrer Reise unter dem Hashtag #VanLife, bis sie eines Tages verschwand. Laundire kehrte ohne seine Verlobte zurück und Petitos Eltern meldeten ihre Tochter als vermisst.

Auf Social Media erfuhr der Vermisstenfall enorme Aufmerksamkeit. Es wurden Videos und Bilder geteilt, kommentiert, spekuliert, Reichweite generiert. So wurde auch ein Youtuber-Pärchen, welches mit seinen Kindern seit Jahren in einem Bus lebt und durchs Land reist, darauf aufmerksam. Sie durchsuchten ihre privaten Fotos und Videos, fanden ein Bild vom weißen Van des gesuchten Paares und informierten das FBI. Der entscheidende Hinweis für die Behörde, die die Leiche der vermissten Gabby Petito unweit der Stelle, an der das Paar den Van zufällig aufgenommen hatte, fand. Auch bei der Suche des dann flüchtigen Verlobten beteiligte sich die Internet-Gemeinde rege – und ungefragt.

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Neues True-Crime-Phänomen: Hobby-Detektive wollen Anerkennung

TikTok hätte bei der Aufklärung eine wichtige Rolle gespielt, weil es für Aufmerksamkeit gesorgt hätte, so die Journalistin und True-Crime-Podcasterin Laura Wohlers gegenüber dem Deutschlandfunk. Doch: Es bringe nichts, wenn Tiktok-Nutzerinnen und -Nutzer Hinweise bei der Plattform selbst posten, diese müssten direkt an die Polizei gehen, damit keine falschen Informationen kursieren, betont die Moderatorin des Podcasts „Mordlust“.

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Den meisten Hobbyermittlern geht es um Anerkennung, wie der Psychologe André Ilcin sagte. Mit ihren Videos bewiesen sie, bei einer wichtigen Sache ganz nah dran zu sein. „In manchen Fällen kommt es zu einer Identitätsverschiebung“, so der Psychologe. Die Menschen lebten sich als Polizisten aus, glaubten, klüger zu sein als die Ermittler, teils angetrieben von raschen Lösungen in TV-Krimis. Weiter verwies er auf den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt: Das eigene Selbstbild stimmt nicht mit der Realität überein. Stattdessen werde der Jagdinstinkt geweckt, die eigene Teilnahme diene als Kick. Und der GdP-Vize Poitz warnte: „Ein langjähriges Studium von Detektivfilmen ersetzt weder eine kriminalpolizeiliche Ausbildung noch die jahrelange Erfahrung routinierter Ermittler.“

Das große Interesse an ‚echten‘ Kriminalfällen ist kein neues Phänomen, das beweist der seit Jahren anhaltende Erfolg von Aktenzeichen XY oder die zahlreichen, viel gehörten True-Crime-Podcasts. Mit TikTok scheint ein neues Format gefunden – Kriminal- und Vermisstenfälle in Echtzeit auf Social-Media.

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Doch der Trend ist mit Vorsicht zu genießen. Denn auch wenn sich die Laien-Ermittler wie kleine Miss Marples fühlen, sind sie nur in Ausnahmefällen so erfolgreich wie Christies Romanfigur. Die Hobby-Ermittler sabotieren vielmehr die polizeilichen Ermittlungen, missachten die Privatsphäre der Opfer und derer Angehörigen. Dass sollten auch TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer bedenken, wenn sie online die Ermittlungen der selbst ernannten Marples verfolgen und feiern. (mit dpa)

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